Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Dietrich Bonhoeffer – Verantwortung

Dietrich

Orelie: Guten Tag, Herr Dietrich Bonhoeffer. Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem die christliche Verantwortung im Mittelpunkt stehen wird. Was können Sie als erstes zu dieser sagen?

Dietrich Bonhoeffer: Wir sind nicht Christus, aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, dass wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst, sondern aus der befreienden und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt. Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen.

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 1951, S.22

Orelie: Was heißt das konkret für einen Menschen?

Dietrich Bonhoeffer: In dem Augenblick, in dem ein Mensch Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt – und nur indem er das tut, steht er in der Wirklichkeit – entsteht die echte ethische Situation, die sich von der Abstraktion, in der der Mensch sonst das Ethische zu bewältigen sucht, allerdings wesentlich unterscheidet.

Dietrich Bonhoeffer, Lebensworte Von guten Mächten wunderbar geborgen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2006, S.15

Orelie: Können Sie diese Unterscheidung zwischen dem Ethischen als Abstraktion und dem Ethischen als Lebenssituation eines Menschen deutlich machen?

Dietrich Bonhoeffer: Das Ethische ist in dieser Abstraktion vom Leben auf eine statische Grundformel gebracht, die den Menschen aus der Geschichtlichkeit seines Daseins herausreißt, um ihn in den luftleeren Raum des rein Privaten und des rein Ideellen zu versetzen. Nicht was an sich gut ist, sondern was unter der Voraussetzung des gegebenen Lebens und für uns als Lebende gut ist, ist unsere Frage. Also gerade nicht unter Absehung vom Leben, sondern in das Leben eingehend fragen wir nach dem Guten. Mitten in der jeweils bestimmten und doch unabgeschlossenen, einmaligen und schon wieder dahinfließenden Situation unseres Lebens, mitten in den lebendigen Bedingungen an Menschen, Dinge, Einrichtungen, Mächte, das heißt mitten in unserem geschichtlichen Dasein wird die Frage nach dem Guten gestellt und entschieden.

Dietrich Bonhoeffer, Ethik, Christian Kaiser Verlag, München, 1975, S.229,227-228

Orelie: In Ihrem Buch Ethik schreiben Sie von der Verantwortung auf Stellvertretung. Können Sie erläutern, was Sie darunter verstehen?

Dietrich Bonhoeffer: Dass Verantwortung auf Stellvertretung beruht, geht am deutlichsten aus jenen Verhältnissen hervor, in denen der Mensch unmittelbar genötigt ist, an der Stelle anderer Menschen zu handeln. Stellvertretung und also Verantwortlichkeit gibt es nur in der vollkommenen Hingabe des eigenen Lebens an den anderen Menschen. Ein Missbrauch des stellvertretenden Lebens droht von zwei Seiten: durch die Absolutsetzung des eigenen Ich wie durch die Absolutsetzung des anderen Menschen. Im ersten Fall führt das Verhältnis der Verantwortung zur Vergewaltigung und Tyrannei. Im zweiten Fall wird das Wohl des andern Menschen, dem ich verantwortlich bin, unter Missachtung aller anderen Verantwortlichkeiten, absolut gesetzt, und es entsteht eine Willkür des Handelns, die der Verantwortung vor Gott, der in Jesus Christus aller Menschen Gott ist, spottet.

Ethik, S.238,240

Orelie: Kommen wir noch zur menschlichen Freiheit zu sprechen. In welchem Verhältnis steht diese zu der von Ihnen dargelegten Verantwortung?

Dietrich Bonhoeffer: In konkreter Verantwortung handeln heißt in Freiheit handeln, ohne Rückendeckung durch Menschen oder Prinzipien selbst entscheiden, handeln und für die Folgen des Handelns einstehen. Verantwortung setzt letzte Freiheit der Beurteilung einer gegebenen Situation, des Entschlusses und der Tat voraus. Verantwortliches Handeln liegt nicht von vornherein und ein für allemal fest, sondern es wird in der gegebenen Situation geboren. Es geht nicht um die Durchführung eines Prinzips, das zuletzt doch an der Wirklichkeit zerbricht, sondern um das Erfassen des in der gegebenen Situation Notwendigen, Gebotenen. Es muss beobachtet, abgewogen, gewertet werden, alles in der gefährlichen Freiheit des eigenen Selbst.

Lebensworte Von guten Mächten wunderbar geborgen, S.17

Orelie: Herr Dietrich Bonhoeffer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.