Orelie: Guten Tag, Herr Charles de Gaulle, ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir von Ihrer Beziehung zu dem US-Präsidenten John F. Kennedy sprechen wollen. 1961 kam er mit seiner Gattin Jacqueline Kennedy nach Frankreich. Wie verlief dieser Besuch?
Charles de Gaulle: Am 31. Mai 1961 kommt John Kennedy in Paris an, überquellend von Dynamik, umgeben von einer Atmosphäre lebhafter Neugier, mit seiner strahlenden und gebildeten Gemahlin ein ungemein charmantes Paar. Die Aufnahme durch die Bevölkerung atmet höchste Sympathie. Die offiziellen Empfänge in der Hauptstadt und im Schloss von Versailles sind äußerst glanzvoll.
Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, Verlag Fritz Molden, Wien-München-Zürich, 1971, S.309
Orelie: In Ihren Gesprächen mit dem Präsidenten erklärten Sie ihm, dass Ihre Zusammenarbeit mit den USA keine wirtschaftliche als auch politische Unterordnung Europas bedeuten könnte. Außerdem bestärkten Sie die Unabhängigkeit Frankreichs. Wie nahm Kennedy diese Forderungen auf?
Charles de Gaulle: Es zeigt sich, dass die Einstellung der Vereinigten Staaten zu Frankreich eine entschiedene Wandlung erfahren hat! Die Zeit ist lang vorbei, in der sich – von der traditionellen Freundschaft einmal abgesehen – Washington damit begnügte, Paris als einen unter vielen Schutzbefohlenen anzusehen, mit dem man, so wie mit den anderen, nur im Rahmen kollektiver Organisationen wie NATO, SEATO, UNO, OECD, IWF usw. verhandelte. Jetzt haben sich die Amerikaner mit unserer Unabhängigkeit abgefunden und reden mit uns unmittelbar und gesondert. Trotzdem können sie sich nicht vorstellen, dass ihrem Vorgehen nicht mehr der Primat zukommen soll und wir unseren eigenen Weg gehen könnten. Im Grunde schlägt Kennedy mir vor, in jedem seiner Vorhaben eine Rolle zu übernehmen. Meine Antwort darauf lautet, Paris sei sicherlich zu einer engen Abstimmung mit Washington sehr bereit, aber was Frankreich tue, tue es aus eigenem Wollen.
Memoiren der Hoffnung, S.309
Orelie: Und was war Kennedys Hauptanliegen Europa betreffend?
Charles de Gaulle: Vor allem liegt ihm die beherrschende Lage seines Landes in der Verteidigung des Westens am Herzen. Er vollbringt wahre Kunststücke, um sie ohne den Anschein eines Verstoßes gegen die französische Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten. Hinsichtlich des eventuellen Einsatzes von Atomwaffen betont er, Amerika würde sich dazu eher entschließen, als Westeuropa in sowjetische Hände fallen zu lassen.
Memoiren der Hoffnung, S.311-312
Orelie: Wie schätzte er hierbei den sowjetischen Staatspräsidenten Nikita Chruschtschow ein?
Charles de Gaulle: John Kennedy zeigt sich ziemlich unruhig über das, was zwischen ihm und Nikita Chruschtschow geschehen wird. „Ich gehe lediglich nach Wien“, sagt er mir, „um ihm eine Freundlichkeit zu erweisen, Kontakt aufzunehmen und Gedanken auszutauschen.“ Diese Zurückhaltung scheint mir weise. Ich sage das dem Präsidenten und fahre fort: „Da man sich nicht schlägt und der kalte Krieg sehr teuer ist, kann der Friede die Zukunft sein. Er lässt sich aber nur durch eine allgemeine und langanhaltende Entspannung ins Werk setzen.“
Memoiren der Hoffnung, S.312
Orelie: Und wie beurteilte Kennedy die Lage in Indochina?
Charles de Gaulle: John Kennedy macht mir klar, auf der indochinesischen Halbinsel einen Damm des Widerstands gegen die Sowjets zu errichten. „Für Sie“, sage ich ihm, „wird das Eingreifen in diesem Gebiet ein Fass ohne Boden sein. Ist eine Nation erst einmal erwacht, dann kann sich ihr keine fremde Macht mehr aufzwingen, und seien ihre Mittel noch so groß. Denn wenn Sie auch an Ort und Stelle Regierende finden, die aus Eigeninteresse bereit sind, Ihnen zu gehorchen, so lassen sich doch die Völker nicht dazu herbei, die Sie im übrigen auch gar nicht rufen. Je mehr Sie sich dort hinten gegen den Kommunismus engagieren, desto mehr werden die Kommunisten als Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit gelten, desto mehr Helfershelfer finden, in erster Linie bei den Verzweifelten. Kenndy hört mir zu. Aber die Ereignisse werden zeigen, dass ich ihn nicht überzeugen konnte.“
Memoiren der Hoffnung, S.310-311
Orelie: Wie beurteilte John F. Kennedy seinen Staatsbesuch nach seiner Rückkehr in die USA?
Charles de Gaulle: Er wird nach seiner Rückkehr nach Washington in einer Rede an das amerikanische Volk am 6. Juni sagen: „Ich habe in General de Gaulle einen umsichtigen Ratgeber für die Zukunft und einen erleuchteten Führer für die Geschichte gefunden, die er selbst mitgestaltet hat. Ich wüsste keinen, dem ich mehr vertrauen könnte.“
Memoiren der Hoffnung, S.313
Orelie: Möchten Sie abschließend noch etwas sagen?
Charles de Gaulle: John Kennedy. Zum Handeln bestimmt, aber nur mit knappster Mehrheit gewählt; an der Spitze eines kolossalen Landes, das aber mit schweren inneren Problemen ringt; zu schnellem und kräftigem Vorgehen geneigt, aber behindert durch die schwerfällige Maschinerie der Bundesbehörden und -dienststellen; auftretend zu einer Zeit, da Amerikas Macht und Ruhm die Weltszene weithin beherrschen, all seine Wunden aber schwären und ihm ein feindseliger, monolithischer Block gegenübersteht; im Genuss des seiner Jugend gewährten Vertrauens, aber auch von Zweifeln umgeben, die dem Novizen gelten, ist der neue Präsident trotz so vieler Hindernisse entschlossen, sich seine Sporen im Dienste der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Fortschritts zu verdienen.
Memoiren der Hoffnung, S.308