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Interview: Pierre Teilhard de Chardin – Gott und die Evolution

Gott_und_Evolution

Orelie: Guten Tag, Herr Pierre Teilhard de Chardin, ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir der Frage nachgehen wollen, wie ein Christ in der modernen Welt seinen Glauben leben kann. Sie sind ein anerkannter Wissenschaftler. Was können Sie von der Wissenschaft aus betrachtet in Hinsicht auf ein göttliches Wirken in der Welt sagen?

Teilhard de Chardin: Ob es sich nun um gewöhnliche Vorsehung oder um wunderbare Vorsehung oder sogar um wunderbare Fakten handelt, wir werden wissenschaftlich niemals dazu geführt, Gott zu sehen, weil das göttliche Wirken niemals als Bruch der physikalischen oder physiologischen Gesetze in Erscheinung tritt, mit denen die Wissenschaft sich allein befasst. Wir werden wissenschaftlich niemals aus dem Kreis der natürlichen Erklärungen herauskommen. Damit müssen wir uns abfinden.

Pierre Teilhard de Chardin, Mein Glaube, Werke: Band 10, Walter-Verlag, Olten, 1982, S.37

Orelie: Kann der Mensch dennoch das Göttliche erkennen?

Teilhard de Chardin: Im eigentlichen Sinne gesprochen macht Gott nicht: er lässt die Dinge sich machen. Deshalb ist dort, wo er wirkt, kein Einbruch, keine Spalte. Das Netz der Determinismen bleibt unversehrt – die Harmonie der organischen Entwicklungen setzt sich ohne Dissonanz fort. Und dennoch ist der Herr in sein Eigentum gekommen.

Mein Glaube, S.36

Orelie: Können Sie erklären, was das konkret für den glaubenden Menschen bedeutet?

Teilhard de Chardin: Wenn der Mensch an Gott glaubt, organisieren sich sogleich um ihn die Elemente des Unvermeidlichen zu einem freundlichen, auf den endgültigen Erfolg des Lebens hingeordneten Ganzen. Für den Gläubigen bleibt jedes Ding, äußerlich und individuell, was es für alle Welt ist: und doch passt die göttliche Allmacht zu seinem Gebrauch das Ganze mit Sorgfalt an. Eine unfehlbare Synthese des Ganzen, die durch kombinierten inneren und äußeren Einfluss gelenkt wird, das scheint also letzten Endes die allgemeinste und vollkommenste Gestalt des göttlichen Einwirkens auf die Welt zu sein.

Mein Glaube, S.45

Orelie: Wie sehen Sie Jesus Christus in dieser unfehlbaren Synthese des Ganzen?

Teilhard de Chardin: Nach fast 2000 Jahren muss Christus wiedergeboren werden, muss er sich reinkarnieren in eine Welt, die allzusehr von der verschieden geworden ist, in der er gelebt hat. Jesus vermag nicht greifbar wieder unter uns zu erscheinen. Doch kann er unserem Geist einen triumphierenden und neuen Aspekt seines alten Antlitzes bekunden. Der Messias, den wir unzweifelhaft alle erwarten, ist, glaube ich, der Christus Universalis, das heißt der Christus der Evolution.

Mein Glaube, S.115

Orelie: Ich bitte Sie, das im Hinblick auf das Dogma der Erlösung zu erklären.

Teilhard de Chardin: Beim Dogma der Erlösung haben das christliche Denken und die christliche Frömmigkeit bisher vor allem die Vorstellung von der sühnenden Wiederherstellung bedacht. Christus wurde vor allem als das Lamm gesehen, das mit den Sünden der Welt beladen ist, und die Welt vor allem als eine gefallene Masse. Doch das Bild enthielt von Anfang an auch ein anderes diesmal positives Element des Wiederaufbaus oder der Neuschöpfung. Neue Himmel, eine neue Erde.

Mein Glaube, S.173-174

Orelie: Das ist sehr optimistisch gesehen, und was bedeutet es für den Christen?

Teilhard de Chardin: Befragen wir die Massen junger Christen, die aufsteigen. Befragen wir uns selbst. Muss das Aufblühen, der religiöse Aufbruch, den wir alle mehr oder weniger bewusst suchen und erwarten, nicht von einer erneuerten Christologie ausgehen, in der die Wiedergutmachung im Heilswirken des Wortes doch an die zweite Stelle rückt. Nicht mehr zuerst sühnen und darüber hinaus wiederherstellen; sondern zuerst schaffen und deshalb gegen das Übel kämpfen und für es bezahlen. Unter diesem Winkel angegangen, scheint der Übergang, die Transformation zwischen Erlösung und Evolution möglich.

Mein Glaube, S.174-175

Orelie: Können Sie nochmals erklären, wie das Kreuz Christi hierbei zu verstehen ist?

Teilhard de Chardin: Ein Kreuz, das, weit mehr als den gesühnten Fehler, den Aufstieg der Schöpfung durch Anstrengung symbolisiert. Das Lamm Gottes, das mit den Sünden das Gewicht der Fortschritte der Welt trägt. Die Vorstellung von Vergebung und Opfer verwandelt sich durch Reicherwerden ihrer selbst in die Vorstellung der Vollendung und Eroberung. Mit anderen Worten, der Christus-Redemptor vollendet sich, ohne irgendwie sein leidendes Antlitz abzuschwächen, in der dynamischen Fülle eines Christus-Evolutor.

Mein Glaube, S.175

Orelie: Herr Teilhard de Chardin, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.