Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Albert Camus – Die Pest

DiePest

Orelie: Guten Tag, Herr Albert Camus, Ihr Roman Die Pest, der 1947 veröffentlicht wurde, ist gleichzeitig eine  Chronik der Kriegszeit, denn die von Ihnen gewählte Stadt Oran steht stellvertretend für das von Nazideutschland besetzte Frankreich. Was wollen Sie mit Ihrem Roman ausdrücken?

Albert Camus: Ich will mit der Pest das Ersticken ausdrücken, an dem wir alle gelitten haben, und die Atmosphäre der Bedrohung und des Verbanntseins, in der wir gelebt haben. Ich will zugleich diese Deutung auf das Dasein überhaupt ausdehnen. Die Pest wird das Bild jener Menschen wiedergeben, denen in diesem Krieg das Nachdenken zufiel, das Schweigen – und auch das seelische Leiden.

Tagebücher 1935 – 1951, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.252

Orelie: Sie selber wurden wegen Ihrer Tuberkulose nicht zum Kriegsdienst zugelassen.

Albert Camus: Und wenn man mich nicht haben will, muss ich mich auch mit der Stellung des verschmähten Zivilisten abfinden. In beiden Fällen kann mein Urteil unbedingt und mein Ekel rückhaltlos bleiben. In beiden Fällen stehe ich mitten im Krieg und habe das Recht, über ihn zu urteilen. Über ihn zu urteilen und zu handeln.

Tagebücher 1935 – 1951, S.136

Orelie: Sie schlossen sich der Résistance an, und die Erfahrungen, die Sie in dieser machten, flossen auch in Ihren Roman ein. Der Arzt Rieux, mit dem Sie sich sehr stark identifizieren, entschließt sich, das Erlebte aufzuschreiben. Warum wurde es ihm zur Notwendigkeit, von diesen Ereignissen zu berichten?

Albert Camus: Damals, inmitten der Schreie, die umso lauter und anhaltender wurden und lange am Fuß der Terrasse widerhallten, je mehr bunte Garben sich in den Himmel erhoben, beschloss Doktor Rieux, den hier endenden Bericht zu schreiben, um nicht zu denen zu gehören, die schweigen, und um für diese Pestkranken Zeugnis abzulegen, damit wenigstens eine Erinnerung an die Ungerechtigkeit und Gewalt blieb, die ihnen angetan worden war, und um einfach zu sagen, was man in Plagen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.

Die Pest, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2009, S.350

Orelie: Was erfuhren die Menschen an Leid?

Albert Camus: Als die Tore auf einmal geschlossen waren, merkten sie, dass sie alle, auch der Erzähler, in derselben Falle saßen und sich damit abfinden mussten. So wurde zum Beispiel ein so individuelles Gefühl, wie das Getrenntsein von einem geliebten Menschen, schon in den ersten Wochen plötzlich von einem ganzen Volk empfunden und war zusammen mit der Angst das schlimmste Leid dieser langen Zeit des Exils.

Die Pest, S.77

Orelie: Die eindringlich beschriebene Grausamkeit der Pest verweist unweigerlich auf den Krieg.

Albert Camus: Jeden Abend heulten Mütter, mit abstraktem Ausdruck, angesichts von Unterleibern, die sich mit all ihren Todesmalen darboten, jeden Abend klammerten sich Arme an Rieux’ Arme, überstürzten sich sinnlose Worte, Versprechungen und Tränen, jeden Abend lösten bimmelnde Krankenwagen Krisen aus, die so vergeblich waren wie aller Schmerz.

Die Pest, S.104

Orelie: Die metaphysische Ebene Ihres Romans kommt in den Gesprächen zwischen Rieux und dem Jesuitenpater Paneloux zum Ausdruck. Was sagt der Pater in seiner ersten Predigt über die Pest?

Albert Camus: Jawohl, die Stunde des Nachdenkens ist gekommen. Ihr habt geglaubt, es genüge, wenn ihr Gott am Sonntag besucht, um Herr eurer Tage zu sein. Ihr habt geglaubt, ihr könntet mit ein paar Kniefällen eure verbrecherische Sorglosigkeit bei ihm wiedergutmachen. Aber Gott ist nicht lau. Diese lose Beziehung genügte seiner verzehrenden Zuneigung nicht. Er wollte euch länger sehen, das ist seine Art, euch zu lieben, und offen gesagt ist es die einzige Art zu lieben. Des Wartens auf euer Kommen müde, hat er deshalb die Geiβel euch heimsuchen lassen, wie sie alle Städte der Sünde heimgesucht hat, seit die Menschen eine Geschichte haben.

Die Pest, S.112

Orelie: Rieux wird von seinem Freund Tarrou gefragt, ob es für ihn irgendeinen Vorzug gebe, Menschen auf eine solche Weise die Augen öffnen zu wollen. Wie lautet Rieux’ Antwort?

Albert Camus: Was für die Übel dieser Welt gilt, gilt auch für die Pest. Das kann einigen dazu verhelfen, zu wachsen. Wenn man jedoch das Elend und den Schmerz sieht, den die Pest bringt, muss man verrückt, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden.

Die Pest, S.144

Orelie: Auch Pater Paneloux sucht in seiner zweiten Predigt nicht mehr nach einer Erklärung für das Leid.

Albert Camus: Rieux verstand vage, dass es dem Pater zufolge nichts zu erklären gab. Sein Interesse wurde konzentrierter, als Paneloux nachdrücklich sagte, es gebe Dinge, die man im Angesicht Gottes erklären könne, und andere, die man nicht erklären könne.

Die Pest, S.253

Orelie: Rieux’ Freund Tarrou wohnte mit siebzehn Jahren einer Gerichtsverhandlung bei, zu der ihn sein Vater, der  Oberstaatsanwalt war, mitnahm. Sein Vater forderte den Tod des Angeklagten, aber für Tarrou war es das Ersuchen, einen Menschen zu ermorden. Von da an wurde er ein Pazifist, der jeden Grund ablehnt, einen Menschen zum Tode zu verurteilen. Was sagt er hinsichtlich seiner Entscheidung zu Rieux?

Albert Camus: Ja, Rieux, es ist sehr anstrengend, verpestet zu sein. Aber es ist noch anstrengender, es nicht sein zu wollen. Deswegen sind alle müde, weil heute alle ein wenig verpestet sind. Aber deswegen empfinden einige, die aufhören wollen, es zu sein, eine völlige Übermüdung, von der sie nichts mehr befreien wird als der Tod. Ich weiß, dass ich bis dahin für diese Welt nichts mehr wert bin und dass ich mich von dem Augenblick an, als ich dem Töten entsagt habe, zu einem endgültigen Exil verurteilt habe. Die Geschichte wird von den anderen gemacht werden. Ich weiß auch, dass ich über diese anderen wahrscheinlich nicht urteilen kann. Mir fehlt eine Eigenschaft, um einen anständigen Mörder abzugeben. Es ist also keine Überlegenheit.

Die Pest, S.288

Orelie: Können Sie den tiefgründigen Gedankenaustausch zwischen Rieux und Tarrou weiterführen, bei dem auch ihre gemeinsame Freundschaft zum Ausdruck kommt?

Albert Camus: Tarrou murmelte, es sei nie vorbei und es werde noch mehr Opfer geben, weil es unvermeidlich sei. „Vielleicht”, antwortete der Arzt, „aber wissen Sie, ich empfinde mehr Solidarität mit den Besiegten als mit den Heiligen. Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.” „Ja, wir suchen das Gleiche, aber ich bin weniger ehrgeizig.” Rieux glaubte, Tarrou würde scherzen, und sah ihn an. Aber in dem verschwommenen Lichtschein, der vom Himmel kam, sah er ein trauriges, ernstes Gesicht. Der Wind erhob sich wieder, und Rieux fühlte ihn lau auf seiner Haut. Tarrou schüttelte sich.„Wissen Sie, was wir für die Freundschaft tun sollten?”, sagte er.  „Was Sie wollen”, sagte Rieux. „Im Meer baden. Das ist sogar für einen künftigen Heiligen ein würdiges Vergnügen.” Rieux lächelte.

Die Pest, S.290-291

Orelie: Am Ende Ihres Romans macht Rieux und somit Sie noch einmal deutlich, warum diese Ereignisse aufgeschrieben werden mussten.

Albert Camus: Aber er wusste dennoch, dass diese Chronik nicht die des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was vollbracht werden musste und was ohne Zweifel noch alle Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen den Schrecken und seine unermüdliche Waffe ankämpfen, die zwar keine Heiligen sein können und die Plagen nicht zulassen wollen, sich aber bemühen, Ärzte zu sein. Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet.

Die Pest, S.350

Orelie: Herr Albert Camus, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.