Orelie: Guten Tag, Herr John Steinbeck, ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir werden über Ihre Reise durch die USA, die Sie zusammen mit Ihrem Pudel Charley unternommen haben, sprechen. Es war im Herbst des Jahrs 1960 und Sie waren achtundfünfzig Jahre alt, als Sie losfuhren, aber Ihr Reisefieber war schon in sehr jungen Jahren vorhanden. Wie können Sie dieses beschreiben?
John Steinbeck: Vier heisere Pfiffe einer Schiffssirene, und immer noch richten sich meine Nackenhaare auf, und meine Füße setzen sich in Bewegung. Der Lärm einer Düsenmaschine, ein warmlaufender Motor, ja nur das Klappern von Pferdehufen auf Straßenpflaster, und schon verspüre ich wieder den alten Schauder, der Mund wird mir trocken und der Blick träumerisch, die Handflächen werden heiß, und der Magen hebt sich bis hoch in den Brustkasten.
John Steinbeck, Die Reise mit Charley: Auf der Suche nach Amerika, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2007, S.7
Orelie: Mit Ihrem gut ausgestatteten Campingwagen, den Sie nach Don Quijotes Pferd Rosinante nannten und Charley auf dem Beifahrersitz, fuhren Sie von New York los Richtung Connecticut. Es kam Ihnen in den Sinn, dass Sie dann und wann jemanden einladen könnten und deswegen Getränke zum Anbieten bräuchten. Was haben Sie aus diesem Grund in einem der Landstraßenläden gekauft?
John Steinbeck: Ich bestellte Bourbon, Scotch, Gin, Wermut, Wodka, einen mittelguten Kognak, sehr alten Apfelschnaps und eine Kiste Bier.
Die Reise mit Charley, S.29
Orelie: Als Sie in New Hampshire durch die White Mountains fuhren, hatten Sie in der Tat einen Gast, und Sie beide tranken gemeinsam Kaffee mit einem Schuss Apfelschnaps. Können Sie den Mann beschreiben?
John Steinbeck: Der Farmer war ein hagerer Mann mit genau dem Gesicht, das wir für ein Yankee-Gesicht halten, und den tonlosen Vokalen, die wir in der Yankee-Aussprache erwarten.
Die Reise mit Charley, S.32
Orelie: Bei einem Spaziergang mit Charley sahen Sie das Nordlicht.
John Steinbeck: Ich habe es nur wenige Male in meinem Leben gesehen. Es hing da und wallte in majestätischen Falten wie ein unendlicher Vorhang eines unendlichen Theaters. In Rosa- und Lavendel- und Purpurfarben bewegte es sich pulsierend am Nachthimmel, und die frostklaren Sterne schienen hindurch.
Die Reise mit Charley, S.54
Orelie: Eine Freundin hatte Ihnen geraten, auf alle Fälle nach Deer Isle zu fahren, was Sie auch taten. Welche Erinnerung haben Sie an diese Insel?
John Steinbeck: Es gibt dort etwas, das Worten keine Tür öffnet. Aber es bleibt im Gedächtnis haften, wenn man die Insel verlassen hat, und sogar Dinge, von denen man gar nicht wusste, dass man sie gesehen hatte, kommen einem hinterher in den Sinn. An eines erinnere ich mich ganz deutlich. Es mag durch die Jahreszeit und ihr besonderes Licht verursacht worden sein, durch die herbstliche Klarheit. Alles hob sich trennscharf von allem anderen ab, ein Felsblock, ein von der See poliertes Treibholz am Strand, eine Dachlinie. Jede Kiefer stand selbstbewusst für sich, auch wenn sie Teil eines Waldes war.
Die Reise mit Charley, S.60
Orelie: In Neuengland nahmen Sie keine Hochgeschwindigkeitsstraßen. Aber um Ohio und Michigan zu durchqueren und bis nach Wisconsin zu kommen, fuhren Sie auf einer Highway. Welche war es und wie verlief die Fahrt?
John Steinbeck: So suchte ich mir die U.S.90 heraus, einen breit in die Landschaft gefrästen Super-Highway, den vielspurigen Transporteur der Güter der Nation. Rosinante preschte dahin. Die Mindestgeschwindigkeit auf dieser Straße war höher als jede, die ich bisher gefahren war. Befehle schrien mich vom Straßenrand an: „Nicht anhalten! Weiterfahren! Geschwindigkeit halten!” Lastzüge, lang wie Frachtschiffe, überholten mich donnernd mit einem Fahrtwind, der mich wie ein Faustschlag traf. Diese großen Straßen sind wunderbar für den Gütertransport, aber ganz ungeeignet zur Betrachtung der Landschaft. Man klebt am Lenkrad, die Augen auf das Fahrzeug vor einem gerichtet und auf den Rückspiegel wegen des nachfolgenden und auf den Seitenspiegel wegen des überholenden, und zugleich muss man alle Schilder lesen, um nur ja keine An- oder Unterweisung zu übersehen. Hier gibt es keine Stände am Straßenrand, die frischgepresste Fruchtsäfte anbieten, keine Antiquitätenläden, keine farm products oder factory outlets. In bestimmten Abständen gibt es Rast- und Erholungsstätten, wo man kalte und warme Speisen, Benzin und Öl, Postkarten und so weiter bekommt, wo es Picknicktische und Abfalleimer gibt, alle sauber und frisch gestrichen, auch Toiletten und Waschräume, in denen die Luft so mit Deodorants und Reinigungsmitteln geschwängert ist, dass man eine Weile braucht, bis man seinen Geruchssinn wiederhat.
Die Reise mit Charley, S.98-99
Orelie: Und wie fühlten Sie sich in Wisconsin?
John Steinbeck: Noch nie hatte ich eine so abwechslungsreiche Landschaft gesehen, und da ich sie nicht erwartet hatte, entzückte mich jedes neue Detail. Ich weiß nicht, wie es in anderen Jahreszeiten dort ist, der Sommer mag stickig und drückend heiß sein, der Winter klirrend vor Kälte, aber als ich Wisconsin zum ersten und einzigen Mal im frühen Oktober sah, war die Luft erfüllt von butterfarbenem Sonnenlicht, nicht dunstig, sondern so frisch und klar, dass jeder frostlustige Baum sich deutlich von den anderen abhob und die Hügel nicht ineinander verschwommen, sondern jeder für sich dastanden. Ich weiß nicht, ob es in Wisconsin ein Käseprobierfest gibt, aber ich als Käseliebhaber meine, das sollte es. Überall gab es Käse, Käsecenter, Käsegenossenschaften, Käseläden und Käsestände, vielleicht sogar Käseeis. Wisconsin ist voller Überraschungen. Ich hatte schon von den Wisconsin Dells gehört, aber ich war nicht auf diese bizarre, von der Eiszeit modellierte Landschaft gefasst, eine eigenartige, dunkel leuchtende Landschaft aus Wasser und ausgewaschenen Felsen, schwarz und grün. Wer hier plötzlich aufwachen würde, könnte glauben, er träume von einem anderen Planeten, denn die Gegend hat etwas Unirdisches oder erinnert zumindest an eine Zeit, als die Welt noch viel jünger und ganz anders als heute war. An den Ufern der traumhaften Wasserwege klebte der Müll unserer Zeit, die Motels, die Würstchenbuden, die Stände, an denen der billige Kitsch und Flitter verkauft wird, den die Sommertouristen so lieben, aber diese Schorfbildungen waren geschlossen und winterdicht zugenagelt, und selbst wenn sie offen gewesen wären, glaube ich kaum, dass sie den Zauber der Wisconsin Dells hätten vertreiben können.
Die Reise mit Charley, S.135-137
Orelie: Danach ging leider alles drunter und drüber, weil Sie sich in Minnesota verirrten.
John Steinbeck: Ich wollte auf dem U. S. 10 nach St. Paul hinein und dann elegant über den Mississippi. Da der Mississippi hier eine S-Kurve macht, würde ich ihn dreimal überqueren können. Ich muss den Mississippi überquert haben, aber ohne ihn zu sehen. Ich habe ihn kein einziges Mal gesehen. Ich habe auch weder St. Paul noch Minneapolis gesehen. Alles, was ich sah, war ein Strom von Lastwagen, alles, was ich hörte, war ein Gebrüll von Motoren. Die mit Dieselabgasen geschwängerte Luft brannte mir in den Lungen. Charley bekam einen Hustenanfall, und ich konnte mir nicht die Zeit nehmen, ihm auf den Rücken zu klopfen. Irgendwann in diesen Tollhausstunden muss ich noch einmal über den Fluss gefahren sein, denn ich fand mich wieder auf der U. S. 10 und fuhr nach Norden am Ostufer des Mississippi.
Die Reise mit Charley, S.138-140
Orelie: Schließlich erreichten Sie Bismarck, die am Missouri liegende Hauptstadt North Dakotas und was stellten Sie fest?
John Steinbeck: Hier ist die Grenze zwischen Ost und West. Auf der Bismarck-Seite ist östliche Landschaft, östliches Gras, mit dem Aussehen und Geruch der Oststaaten. Jenseits des Missouri, auf der Mandan-Seite, ist purer Westen, mit braunem Gras und tief eingeschnittenen Wasserläufen und freiliegenden Gesteinsschichten.
Die Reise mit Charley, S.164-165
Orelie: Einmal verliebten Sie sich, können Sie davon berichten?
John Steinbeck: Ich bin in Montana verliebt. Für andere Staaten empfinde ich Bewunderung, Respekt, Anerkennung, sogar eine gewisse Zuneigung, aber bei Montana ist es Liebe, und Liebe ist schwer zu erklären, wenn man verliebt ist. Mir scheint, Montana ist ein großes Stück Pracht und Herrlichkeit. Die Dimensionen sind riesig, aber nicht überwältigend. Das Land strotzt von Gras und Farben, und die Berge sind von der Art, wie ich sie erschaffen würde, wenn Berge jemals auf meiner Agenda stünden. Mir schien, dass es die hektische Geschäftigkeit Amerikas in Montana nicht gab. Es war Jagdsaison, als ich durch den Staat fuhr, aber die Männer mit denen ich sprach, wirkten nicht wie Leute, die zu einem jährlichen Großgemetzel ausgezogen sind, sondern sich einfach nur etwas Essbares schießen wollen. Meine Sicht mag von Liebe verblendet sein, aber mir kamen auch die Städte eher wie Orte zum Darinleben als wie nervöse Bienenstöcke vor. Die Leute hatten Zeit, in ihren Beschäftigungen innezuhalten, um die schwindende Kunst der Nachbarschaftlichkeit zu pflegen.
Die Reise mit Charley, S.169-170
Orelie: Einige Zeit später erreichten Sie die Große Wasserscheide, die den Rocky Mountains folgt. Was waren Ihre Eindrücke?
John Steinbeck: Die Rocky Mountains sind zu groß, zu lang und zu wichtig, um eindrucksvoll sein zu müssen. In Montana steigen sie allmählich an, und wäre nicht ein gemalter Strich auf der Straße gewesen, hätte ich nie erfahren, wann ich die Wasserscheide überquerte. Ich sah den Strich erst, als ich darüberfuhr, aber ich stoppte und fuhr zurück, stieg aus und stellte mich breitbeinig darüber. Und es war eigenartig zu denken, als ich da stand und nach Süden blickte, dass der Regen, der auf mein rechtes Bein fiel, in den Pazifik fließen musste, während der auf meinem linken Bein nach unzähligen Meilen seinen Weg in den Atlantik finden würde.
Die Reise mit Charley, S.177
Orelie: Dann überquerten Sie die Grenze zu Washington und wie war Ihnen danach zumute?
John Steinbeck: Ich erinnere mich sehr gut an den üppigen und lieblichen Osten von Washington und an den prächtigen Columbia River. Erst als ich mich Seattle näherte, wurde die unglaubliche Veränderung sichtbar. Die achtspurigen Super-Highways schneiden wie Gletscher durch das unbehagliche Land. Der Verkehr tobte mit mörderischer Dichte. In den Außenbezirken dieses Ortes, den ich einst gut gekannt hatte, fand ich mich nicht mehr zurecht. Wo früher Landstraßen zwischen Beerensträuchern gewesen waren, erstreckten sich jetzt hohe Drahtzäune vor meilenlangen Fabriken, und der gelbe Rauch des Fortschritts hing über allem, ungeachtet der Anstrengungen des Seewinds, ihn zu vertreiben. Am nächsten Tag ging ich in den alten Teil von Seattle, wo die Fische und Krabben und Garnelen schön auf weißen Betten aus gehacktem Eis lagen und die gewaschenen und glänzenden Gemüse zu Stilleben arrangiert waren. Ich trank Muschelsaft und aß die scharfen Krabbencocktails an den Verkaufsständen am Wasser. Dieser Teil war nicht sehr verändert – nur ein bisschen verwahrloster und schmutziger als vor zwanzig Jahren.
Die Reise mit Charley, S.192-193
Orelie: Daraufhin kamen Sie in Ihre Heimat, nach Kalifornien. Es ist bekannt, dass Sie in Salinas geboren sind, aber Monterey ist Ihnen genauso ans Herz gewachsen. Vor allem rühmen Sie die Mammut- oder Redwoodbäume, heutzutage eher als Sequoias bekannt. Was können Sie über diese Bäume sagen?
John Steinbeck: Niemand hat einen Mammutbaum jemals überzeugend gemalt oder fotografiert. Das Gefühl, das sie hervorrufen, ist nicht übertragbar. Sie gebieten Stille und heilige Scheu. Es ist nicht nur ihre unglaubliche Statur, auch nicht ihre Farbe, die zu schillern und sich vor unseren Augen zu verändern scheint, nein, sie gleichen keinem anderen Baum, den wir kennen, sie sind Botschafter aus einer anderen Zeit. Sie teilen das Mysterium der Farne, die vor einer Million Jahren in der Kohle des Karbonzeitalters verschwanden. Sie haben ihr eigenes Licht und ihren eigenen Schatten. Ich habe diese großen Wesen seit meiner frühesten Kindheit gekannt, habe unter ihnen gelebt, an ihren warmen Riesenleibern kampiert und geschlafen, und keine noch so nahe Berührung hat jemals meine Ehrfurcht gemindert.
Die Reise mit Charley, S.200-201
Orelie: Und wie verliefen die Begegnungen mit alten Freunden?
John Steinbeck: Der Ort meiner Jugend hatte sich verändert, und da ich fortgegangen war, hatte ich die Veränderung nicht mitgemacht. In meiner Erinnerung war er noch so wie früher, und sein jetziges Erscheinungsbild verwirrte und ärgerte mich. Indem ich nun wiederkehrte als einer, der für meinen Freund ebenso verändert war wie meine Stadt für mich, verzerrte ich sein Bild und verwirrte seine Erinnerung. Durch meinen Fortgang war ich hier gleichsam gestorben und damit fixiert und unveränderlich. Meine Rückkehr verursachte nichts als Verwirrung und Unbehagen. Natürlich konnten sie es mir nicht sagen, aber meine alten Freunde wünschten, ich wäre fort, damit ich wieder meinen Platz in ihrem Erinnerungsbild einnehmen konnte – und ich wollte aus dem gleichen Grunde fort.
Die Reise mit Charley, S.217-218
Orelie: Das taten Sie auch, und obwohl Sie weiter mit Rosinante über die Highways brausten, hatten Sie ihren Elan verloren und ihre Begeisterung hatte nachgelassen. Können Sie das beschreiben?
John Steinbeck: Jenseits des Colorado River standen die dunklen gezackten Felsenmauern von Arizona vor dem Himmel, und dahinter erhob sich die mächtige schiefe Ebene, die zum Rückgrat des Kontinents ansteigt. Ich kam nach New Mexico, preschte an Gallup vorbei in die Nacht und kampierte auf der kontinentalen Wasserscheide – sie ist hier viel spektakulärer als im Norden. Ich fuhr in einen windgeschützten kleinen Canyon und parkte vor einem Berg von zerbrochenen Flaschen – Whisky – und Ginflaschen, Tausende davon. Ich weiß nicht, warum sie dort lagen. Ich blieb hinter dem Lenkrad sitzen, starrte hinaus und stellte mich dem, was ich vor mir selbst verborgen hatte. Ich hetzte voran, ich fraß die Meilen, weil ich nichts mehr hören und sehen konnte. Ich hatte die Grenze meiner Aufnahmekapazität überschritten, ich war wie einer, der weiter Essen in sich hineinstopft, obwohl er längst satt ist, ich fühlte mich außerstande zu assimilieren, was durch meine Augen in mich hineingefüttert wurde. Jeder Hügel sah aus wie der eben passierte.
Die Reise mit Charley, S.233-234
Orelie: Ihre Frau ist Texanerin und Sie kamen während Ihrer Reise auch in diesen Bundesstaat. Was können Sie zu ihm sagen?
John Steinbeck: Texas ist nicht irgendein Staat, Texas ist ein state of mind, ein Geisteszustand. Texas ist eine Obsession. Jede meiner Beobachtungen kann sofort durch eine andere Meinung oder Gegenbeobachtung widerlegt werden, aber ich denke, es wird wenig Streit über meinen Eindruck geben, dass Texas eine Einheit ist. Trotz seiner enormen räumlichen Ausdehnung, trotz all seiner klimatischen und geographischen Unterschiede und trotz all seiner inneren Zänkereien, Kontroversen und Rangeleien hat Texas eine Bindekraft, die vielleicht stärker ist als in jedem anderen Teil Amerikas. Für jeden Texaner, ob reich oder arm, ob im Norden oder an der Golfküste, ob in der Stadt oder auf dem Land, ist Texas die Obsession, der Gegenstand seines Eiferns und der leidenschaftlich gehütete Besitz.
Die Reise mit Charley, S.239-242
Orelie: Lassen Sie uns zu einer bedeutsamen Erfahrung während Ihrer Reise kommen, die Sie in Louisiana, genauer gesagt: in New Orleans machten. Sie wohnten einem Ereignis bei, das Sie nicht für möglich gehalten hätten und das Abscheu und Ekel in Ihnen hervorrief. Die Rassentrennung war in den Öffentlichen Schulen der Südstaaten im Jahr 1954 vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten aufgehoben worden. Es waren also sechs Jahre vergangen, als Sie in New Orleans mit eigenen Augen sahen, dass Polizisten die Einschulung eines kleinen schwarzen Mädchens möglich machen mussten. Mehrere Frauen beschimpften durch Schmährufe die Kinder. Können Sie das näher ausführen?
John Steinbeck: Was die Reporter so wild auf die Geschichte machte, war eine Gruppe von korpulenten Frauen mittleren Alters, die sich, ausgehend von einer eigenartigen Definition des Wortes „Mutter”, jeden Tag versammelten, um die Kinder lauthals zu beschimpfen. Eine kleine Anzahl von ihnen hatte sich darin so hervorgetan, dass sie als the Cheerleaders bekannt geworden waren, als wären sie die Anführer einer Buhrufertruppe, und jeden Tag versammelte sich eine große Menge, um ihrer Darbietung zu applaudieren.
Die Reise mit Charley, S.262
Orelie: Die Leute warteten auch ungeduldig auf den Weißen, der sein Kind zur Einschulung brachte.
John Steinbeck: Die Menge wartete auf den Weißen, der es wagte, sein weißes Kind zur Schule zu bringen. Und da kam er auch schon den bewachten Gehweg entlang, ein hochgewachsener Mann in hellgrauem Anzug, sein verängstigtes Kind an der Hand. Der Körper war angespannt wie eine starke, bis zum Bruchpunkt gebogene Blattfeder, das Gesicht ernst und grau und der Blick auf den Boden vor seinen Füßen gerichtet. Die Backenmuskeln standen heraus, weil er die Zähne zusammenbiss, ein Mann, der sich fürchtete, aber seine Furcht durch seinen Willen bändigte, so wie ein sehr guter Reiter ein in Panik geratenes Pferd im Zaume hält.
Die Reise mit Charley, S.270-271
Orelie: Und dann hörten Sie wieder das grausame schrille Geschrei der Frauen. Welche Worte hörten Sie?
John Steinbeck: Keine Zeitung hatte die Worte gedruckt, die diese Frauen da schrien. Aber jetzt hörte ich diese Worte, und sie waren bestialisch, unflätig, absolut widerlich. Niedergeschrieben sind diese Worte schmutzige, sorgfältig ausgesuchte Gemeinheiten. Aber hier gab es noch etwas viel Schlimmeres als Schmutz, nämlich eine erschreckende Art von Hexensabbat. Dies war kein spontaner Aufschrei der Wut oder der unbeherrschten Empörung. Hier ging es nicht um ein prinzipielles Gut oder Böse, nicht um eine Richtung. Diese pausbäckigen Frauen mit ihren kleinen Hüten und ihren Zeitungsausschnitten gierten nach Aufmerksamkeit. Sie wollten bewundert werden. Sie strahlten in blöde-glücklichem, fast unschuldigem Triumph, wenn sie Beifall bekamen. Sie hatten die stupide Grausamkeit von egozentischen Kindern, und das machte ihre gefühllose Bestialität irgendwie noch sehr viel niederschmetternder. Das waren keine Mütter, nicht einmal Frauen. Das waren verrückt gewordene Schauspielerinnen vor einem verrückt gewordenen Publikum. Die Menge hinter der Absperrung johlte und gröhlte und tobte vor Begeisterung. Die nervös hin und her patrouillierenden Polizisten passten auf, dass die Absperrung nicht durchbrochen wurde. Der graue Mann hatte für einen Moment den Schritt beschleunigt, aber er riss sich zusammen und ging ruhig den Weg zur Schule hinauf. Die Menge verstummte, und die nächste Megäre kam an die Reihe. Jeder, der einmal mit dem Theater in Berührung gekommen ist, würde erkennen, dass diese Reden nicht spontan waren. Sie waren sorgfältig einstudiert und geprobt. Ich beobachtete die Gesichter der lauschenden Menge, und es waren die Gesichter eines Theaterpublikums. Wenn es Applaus gab, dann für eine gelungene Darbietung. Mir wurde ganz schlecht vor Ekel. Und plötzlich wusste ich, dass an der Szene etwas nicht stimmte, dass sie ein verzerrtes, unperspektivisches Bild abgab. Ich kannte New Orleans, ich hatte dort jahrelang viele Freunde gehabt, liebenswürdige und besonnene Leute mit einer Tradition der Güte und Höflichkeit. Ich weiß nicht, wo sie waren. Vielleicht fühlten sie sich ebenso hilflos wie ich, aber sie ließen zu, dass New Orleans vor den Augen der Welt falsch dargestellt wurde.
Die Reise mit Charley, S.271-273
Orelie: Sie trafen auch einen besonnenen Menschen, der aus St Louis stammte. Sie luden ihn zum Kaffee ein und können Sie etwas von dem Gespräch wiedergeben, das Sie mit ihm führten?
John Steinbeck: „Reisen Sie zum Vergnügen?” „Ja, bis heute. Dann habe ich die Cheerleaders gesehen.” „O ja, ich verstehe”, sagte er, und eine lastende Düsternis legte sich über sein Gesicht. „Können Sie ein Ende absehen?” „Oh, gewiss, ein Ende schon. Nur nicht die Mittel, die dahin führen. Aber Sie sind aus dem Norden. Das ist nicht Ihr Problem.” „Ich glaube, es ist unser aller Problem. Das ist keine bloß lokale Frage. Wollen Sie ein bisschen mit mir darüber sprechen?” „Das Bild scheint sich dauernd zu ändern, je nachdem wer man ist und wo man gelebt hat und wie man empfindet – nicht denkt, sondern empfindet. Es hat Ihnen nicht gefallen, was Sie gesehen haben?” „Hätte es Ihnen gefallen?” „Vielleicht noch weniger als Ihnen, weil ich alles über seine leidvolle Vergangenheit weiß und manches über seine stinkende Zukunft – ein hässliches Wort, Sir, aber es gibt kein anderes.”
Die Reise mit Charley, S.276-277
Orelie: Herr Steinbeck, wollen Sie dem noch etwas hinzufügen?
John Steinbeck: Ich möchte hier eines ganz klar sagen: Ich hatte nicht die Absicht – und habe es, denke ich, auch nicht getan -, irgendeine Art von repräsentativem Querschnitt vorzuführen. Ich habe nur erzählt, was einige wenige Leute zu mir gesagt haben und was ich gesehen habe. Ich weiß nicht, ob sie typisch waren oder ob daraus irgendein Schluss gezogen werden kann. Aber ich weiß, dass es ein Land in Nöten ist und ein Volk, das sich in einer bösen Klemme verfangen hat. Und ich weiß, dass die Lösung, wenn sie je kommt, nicht leicht und nicht einfach sein wird. Und ich glaube, dass das Fragliche nicht das Ende oder Ziel des ganzen Prozesses ist, sondern wie man dieses Ende oder Ziel erreicht. Es sind die Mittel – die furchtbare Ungewissheit der Mittel.
Die Reise mit Charley, S.288
Orelie: Ihre Reise hatte schon lange bevor sie mit Charley losfuhren begonnen, können Sie sich daran erinnern, wann sie zu Ende war?
John Steinbeck: Ich weiß genau, wann und wo sie vorbei war. An einem windigen Nachmittag um vier Uhr in der Nähe von Abingdon im Südwestzipfel von Virginia machte sich meine Reise ohne Vorwarnung, ohne Gruß oder Abschiedskuss davon und ließ mich fern der Heimat allein. Die Meilen rollten unbeachtet unter mir ab. Ich weiß, dass es kalt war, aber ich spürte es nicht; ich weiß, dass die Landschaft schön gewesen sein muss, aber ich sah sie nicht. Ich donnerte blind durch Virginia, preschte nach Pennsylvania hinein und jagte Rosinante auf den großen breiten gebührenpflichtigen Super-Highway. Es gab keine Nacht, keinen Tag, keine Entfernungen. Ich muss wohl angehalten haben, um zu tanken, um Charley hinauszulassen und zu füttern, um selber etwas zu essen und zu telefonieren, aber ich erinnere mich an nichts von alledem.
Die Reise mit Charley, S.289-290