Madame Bovary
Orelie: Guten Tag, Herr Gustave Flaubert, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, das wir Ihrem Roman Madame Bovary widmen wollen. Der Landarzt Charles Bovary heiratet ein Mädchen namens Emma, das bei den Ursulinen erzogen worden war. Wie ist ihm zumute?
Gustave Flaubert: Was hatte er bisher schon Gutes gehabt im Leben? Seine Zeit im Collège, wo er eingeschlossen war zwischen den hohen Mauern, allein unter seinen Kameraden, die reicher oder im Unterricht besser waren als er, die ihn wegen seiner Aussprache verlachten, die über seine Kleider spotteten? Oder später, als er Medizin studierte und nie genug Geld im Beutel hatte, um irgendeine kleine Arbeiterin zum Kontertanz einzuladen, die seine Liebste geworden wäre? Danach hatte er vierzehn Monate mit der Witwe gelebt, deren Füße im Bett kalt waren wie Eis. Doch jetzt besaß er fürs ganze Leben diese hübsche Frau, die er anbetete.
Gustave Flaubert, Madame Bovary, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2014, S.50
Orelie: Und wie empfindet Emma kurze Zeit nach der Heirat ihre Ehe?
Gustave Flaubert: Während im gemeinsamen Leben die Vertrautheit enger wurde, kam es zu einer inneren Loslösung, die sie von ihm trennte. Musste ein Mann denn nicht alles wissen, in mannigfaltigsten Dingen brillieren, einen vertraut machen mit den Wirkungskräften der Leidenschaft, mit den Feinheiten des Lebens, mit jedem Geheimnis? Der da hingegen lehrte einen nichts, konnte nichts, wollte nichts. Er hielt sie für glücklich; und sie zürnte ihm wegen dieser soliden Ruhe, dieser heiteren Schwerfälligkeit, ja sogar wegen des Glücks, das sie ihm schenkte.
Madame Bovary, S.60
Orelie: Madame Bovary sehnt sich nach einem bewegten Leben und flüchtet in eine Scheinwelt, indem sie Zeitschriften abonniert und sich ins Lesen von Romanen stürzt. Schließlich ist ihr Mann bereit, nach Yonville, einen kleinen Ort in der Nähe von Rouen zu ziehen. Sie bekommen ein Kind, ein Mädchen, das den Namen Berthes erhält, aber dieser Umstand ändert nichts an ihrem Leben, das sie nicht erfüllt. Bei dem Notar von Yonville arbeitet ein junger Kanzlist, Léon Dupuis, der sich ebenfalls langweilt, und was ist daher nicht verwunderlich?
Gustave Flaubert: Sie war verliebt in Léon und suchte die Einsamkeit, um sich genüsslicher an seinem Bild zu weiden. Der Anblick seiner Gestalt störte die Lust an dieser Grübelei. Emma erbebte beim Geräusch seiner Schritte, stand er ihr dann gegenüber, verflog die Erregung, zurück blieb nur grenzenlose Verwunderung und am Ende Traurigkeit. Léon wusste nicht, wenn er verzweifelt von ihr fortging, dass sie hinter ihm aufstand, um ihn auf der Straße zu sehen.
Madame Bovary, S.146
Orelie: Léon fasst als einzigen Ausweg den Entschluss, nach Paris zu gehen. Wie wirkt sich seine Abwesenheit auf Madame Bovary aus?
Gustave Flaubert: Von nun an wurde der Gedanke an Léon zum Mittelpunkt ihrer Langeweile. Doch mit der Zeit loderten die Flammen weniger hoch. Sie hatte Stimmungen. Häufig änderte sie ihre Frisur. Sie wollte Italienisch lernen: sie kaufte Wörterbücher, eine Grammatik, einen Vorrat von weißem Papier. Sie versuchte sich an ernster Lektüre, Geschichte und Philosophie. Sie war gleichmäßig blass, weiß wie ein Leintuch. Oft hatte sie Schwächeanfälle. Eines Tages spuckte sie sogar Blut.
Madame Bovary, S.168-169
Orelie: Bei einer Landwirtschaftsausstellung lernt Madame Bovary den Lebemann Rodolphe Boulanger kennen. Was können Sie über diesen Herrn sagen?
Gustave Flaubert: Monsieur Rodolphe Boulanger war vierunddreißig; er hatte einen rohen Charakter und einen scharfen Verstand, pflegte regen Umgang mit Frauen und war darin äußerst versiert.
Madame Bovary, S.175
Orelie: Rodolphe Boulanger macht Emma ein Liebesgeständnis und sie hört Worte, die sie bisher nur in Büchern gelesen hatte. Bald darauf reiten sie gemeinsam aus, was empfindet Madame Bovary nach ihrer Rückkehr?
Gustave Flaubert: Es war zunächst wie ein Taumel; sie konnte die Bäume sehen, die Wege, die Gräben, Rodolphe, und sie spürte noch seine Umarmungen. Doch als sie ihr Gesicht im Spiegel erblickte, war sie überrascht. Nie zuvor waren ihre Augen so groß gewesen, so schwarz, so tiefgründig. Etwas Hauchzartes auf ihrer ganzen Gestalt hatte sie verwandelt. Immer wieder sagte sie: „Ich hab einen Geliebten!”
Madame Bovary, S.215
Orelie: Wie ist es nach sechs Monaten um Emmas Liebesbeziehung bestellt?
Gustave Flaubert: Sie wusste nicht, ob es sie reute, dass sie ihm nachgegeben hatte, oder ganz im Gegenteil, ob sie nicht wünschte, ihn noch inniger zu lieben. Das demütigende Gefühl der eigenen Schwäche wurde zu Groll, den nur die Lust milderte. Es war nicht Anhänglichkeit, es war wie eine ständige Verführung. Es beherrschte sie. Fast machte ihr das Angst. Nach außen jedoch war alles friedlicher denn je, Rodolphe war es gelungen, den Ehebruch nach seinen Vorstellungen zu lenken; und sechs Monate später standen sie zueinander wie zwei Eheleute, die in aller Ruhe ihre häusliche Flamme nähren.
Madame Bovary, S.226
Orelie: Madame Bovary möchte schließlich nur noch mit Rodolphe zusammenleben, der Pässe besorgen soll, damit sie zusammen entfliehen können. Wie entscheidet sich Rodlphe nach einigem Hin und Her?
Gustave Flaubert: „Was bin ich für ein Esel!” sagte er und fluchte gotterbärmlich. „Einerlei, sie war eine hübsche Geliebte!” Und sogleich stand Emmas Schönheit, samt all den Vergnügungen dieser Liebe, wieder vor seinen Augen. Zunächst spürte er Rührung, dann empörte er sich gegen sie. „Was soll das”, rief er gestikulierend, „ ich kann doch nicht die Heimat verlassen, mir ein Kind aufhalsen.” Er sagte derlei Dinge, um sich zu bestärken. „Und außerdem, die Schwierigkeiten, der Aufwand…Oh! nein, nein, tausendmal nein! das alles wäre mehr als dumm!”
Madame Bovary, S.262
Orelie: Rodolphe schreibt Emma einen Abschiedsbrief, der sie in große seelische und körperliche Verzweiflung stürzt. Sie genest nur schwer, und so schlägt Ihr Mann ihr einen Theaterbesuch in Rouen vor. Während der Aufführung begegnen sie dem Kanzlisten Léon Dupuis, der bald darauf mit Madame Bovary eine bewegte Liebesbeziehung eingeht. Wie endet diese?
Gustave Flaubert: Sie kannten einander zu gut und vermochten nicht länger jenes Staunen zu empfinden, das die Lust des Besitzens verhundertfacht. Sie war seiner so überdrüssig wie er ihrer müde. Emma fand im Ehebruch von neuem alle Schalheit der Ehe. Sie gab Léon die Schuld an ihren enttäuschten Hoffnungen, als habe er sie verraten; und sie sehnte sogar eine Katastrophe herbei, die ihre Trennung erzwang, denn ihr fehlte der Mut zu jedem Entschluss.
Madame Bovary, S.377
Orelie: Die Katastrophe trifft ein, denn Madame Bovary gibt verschwenderisch Geld aus, unterschreibt Wechsel, die sie nicht bezahlen kann. Es kommt zur Pfändung und dennoch kann sie die gemachten Schulden nicht zurückzahlen. Emma sieht keinen Ausweg mehr, als den Selbstmord. Wie verhält sich Charles nach ihrem Tod?
Gustave Flaubert: Charles kniete auf der anderen Seite, die Arme ausgestreckt nach Emma. Er hatte ihre Hände genommen, und er drückte sie, bei jedem Schlag ihres Herzens zusammenzuckend, wie unter der Erschütterung einer einstürzenden Ruine. Je lauter das Röcheln wurde, desto schneller sprach der Geistliche sein Gebet; es mischte sich unter die erstickten Schluchzer Bovarys.
Madame Bovary, S.420
Orelie: Charles Bovary findet eines Tags die Liebesbriefe, die Léon und Rodolphe an seine Frau geschrieben haben. Es kommt zufällig zu einem Wiedersehen zwischen ihm und Rodolphe, der ihn auf ein Glas Bier ins Wirtshaus einlädt. Wie verläuft das Gespräch?
Gustave Flaubert: Charles, den Kopf in beide Hände gelegt, erklärte mit tonloser Stimme und der Gefasstheit unendlichen Schmerzes: „Nein, ich nehm es Ihnen nicht mehr übel!” Er fügte sogar ein großes Wort hinzu, das einzige, das er jemals gesagt hat: „Schuld ist das Schicksal!” Rodolphe, der dieses Schicksal gelenkt hatte, fand ihn ganz schön gutmütig für einen Mann in seiner Lage, ja sogar lachhaft und ein bisschen verachtenswert.
Madame Bovary, S.449-450
Orelie: Am Tag darauf stirbt Charles Bovary. Was können Sie über seinen Tod sagen?
Gustave Flaubert: Am nächsten Tag ging Charles hinaus und setzte sich auf eine Bank in der Laube. Lichtflecken fielen durch das Gitterwerk: die Weinblätter zeichneten ihre Schatten auf den Sand, der Jasmin duftete, der Himmel war blau, Kanthariden schwirrten um die blühenden Lilien, und Charles rang nach Luft wie ein junger Bursche unter dem dunklen Liebesandrang, der sein trauriges Herz schwellte. Um sieben erschien die kleine Berthe. Er hatte den Kopf nach hinten geneigt, gegen die Mauer, die Augen geschlossen, den Mund offen, und hielt in den Händen eine lange Strähne von schwarzem Haar.
Madame Bovary, S.450
Orelie: Herr Gustave Flaubert, ich danke Ihnen für dieses Gespräch
Der Prozess
Orelie: Guten Tag, Herr Gustave Flaubert, ich heiße Sie herzlich willkommen. Wir werden in diesem Gespräch über den Prozess sprechen, der Ihnen im Jahr 1857 gemacht wurde. Die Anklage lautete, dass Ihr Werk Madame Bovary gegen die öffentliche Moral und Religion verstöße. Der kaiserliche Staatsanwalt, Herr Ernest Pinard, griff Stellen aus Ihrem Roman heraus, mit denen er seine Anklage untermauerte. So zitierte er die von Emma Bovary gesprochenen Worte, die ihre immense Freude ausdrücken, nachdem Rodolphe Boulanger ihr nach einem gemeinsamen Ausritt zu Pferde seine Liebe gestanden hat. Ich zitiere die Zeilen, die der Staatsanwalt Ihrem Roman entnahm: „Immer wieder sagte sie: „Ich hab einen Geliebten! einen Geliebten!” und sie berauschte sich an dieser Vorstellung, als wäre ihr eine zweite Mädchenblüte zuteil geworden. Sie würde nun endlich die Freuden der Liebe erfahren, jenes fiebrige Glück, das sie schon verloren geglaubt hatte. Sie stand vor etwas Wunderbarem, und alles verhieß Leidenschaft, Ekstase, Verzückung…” Von dieser ersten Schuld an, von diesem ersten Fehltritt an verherrlicht sie den Ehebruch, singt sie das Hohelied des Ehebruchs, seine Poesie, seine Lüste. Das, meine Herren, ist für mich viel gefährlicher, viel unmoralischer als der Fehltritt selbst!”
Gustave Flaubert, Madame Bovary, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2014, S.468
Herr Gustave Flaubert, was antwortete Ihr Verteidiger, Herr Antoine Sénard, in seinem Plädoyer auf diesen Punkt der Anklage?
Gustave Flaubert: Hier stoße ich auf die Entrüstung des Herrn Staatsanwalts. Er ist empört, weil die Reue nicht sogleich nach dem Fehltritt kommt, weil sie, anstatt Bitterkeit darüber auszudrücken, sich zufrieden sagt: „Ich hab einen Geliebten.” Aber der Autor wäre nicht in der Wahrhaftigkeit, würde er in dem Augenblick, wo der Kelch noch die Lippen berührt, die ganze Bitterkeit des berückenden Tranks spüren lassen. Wer schriebe, wie es dem Herrn Staatsanwalt vorschwebt, der könnte moralisch sein, aber er würde etwas sagen, das nicht in der Natur ist. Nein, nicht im Augenblick der ersten Schuld rührt sich das Gefühl von der Schuld; dann würde sie nicht begangen. Nein, nicht im Augenblick, da sie in der berauschenden Illusion gefangen ist, kann die Frau durch eben diesen Rausch vor der ungeheuren Schuld gewarnt werden, die sie begangen hat. Sie nimmt nur die Trunkenheit mit nach Hause.
Madame Bovary, ibid., S.526
Orelie: Kommen wir auf ein weiteres Argument des Herrn Staatsanwalts zu sprechen, das sich auf den von Ihnen gebrauchten Ausdruck Schalheit der Ehe bezieht. Ich zitiere den Herrn Staatsanwalt: Schalheit der Ehe, Poesie des Ehebruchs! Mal ist es die Besudelung durch die Ehe, mal ist es ihre Schalheit, doch immer ist es die Poesie des Ehebruchs. Das, meine Herren, sind die Situationen, die Monsieur Flaubert zu malen liebt, und leider malt er sie nur allzugut.
Madame Bovary, S.476
Was antwortete Ihr Verteidiger hierauf?
Gustave Flaubert: Schalheit der Ehe! Derjenige, der das ausgeschnitten hat, hat gesagt: „Wie bitte, da ist ein Herr, der sagt, in der Ehe gibt es nur Schalheit! Das ist ein Angriff auf die Ehe, das ist ein Verstoß gegen die Moral!” Geben Sie zu Herr Staatsanwalt, dass man mit kunstvoll hergestellten Ausschnitten in puncto Anschuldigung weit gehen kann. Was hat der Autor als Schalheit der Ehe bezeichnet? Die Monotonie, vor der Emma sich gefürchtet hatte, vor der sie fliehen wollte und die sie im Ehebruch ständig von neuem fand, was ja gerade die Enttäuschung war. Sie sehen also, wenn man, anstatt Satzteile und Wörter auszuschneiden, liest, was vorangeht und was folgt, bleibt von der Anschuldigung nichts übrig; und Sie verstehen wohl, dass mein Mandant, der seine Gedanken kennt, ein wenig empört sein muss, wenn er sie auf diese Weise entstellt sieht.
Madame Bovary, ibid., S.537
Orelie: Herr Flaubert, Sie wurden von dem Gericht von der gegen Sie erhobenen Anklage frei gesprochen und konnten daraufhin Ihren Roman veröffentlichen. Um Ihrem Verteidiger zu danken, ließen Sie ihm zu Beginn Ihres Romans höchstes Lob zuteil werden. Können Sie Ihre Worte zitieren?
Gustave Flaubert: Für Marie-Antoine-Jules Sénard. Mitglied der Anwaltskammer zu Paris, ehemaliger Präsident der Nationalversammlung und vormaliger Innenminister.
Teurer und erlauchter Freund, gestatten Sie mir, Ihren Namen an den Anfang dieses Buches und sogar noch vor die Widmung zu stellen; denn Ihnen im besonderen verdanke ich seine Veröffentlichung. Durch Ihr grandioses Plädoyer hat mein Werk für mich selbst so etwas wie eine unerhoffte Autorität erlangt. Nehmen Sie darum hier den Ausdruck meiner Dankbarkeit entgegen, die, so groß sie auch sein mag, Ihrer Eloquenz und Ihrer Hingabe niemals gerecht wird.
Madame Bovary, ibid., zu Beginn des Romans