Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Hannah Arendt – Anmerkungen über das Böse

Orelie: Guten Tag Frau Hannah Arendt. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Sie sind Professorin für politische Theorie an der New School for Social Research in New York und haben zahlreiche Schriften über den Totalitarismus veröffentlicht. Als Jüdin haben Sie das nationalsozialistische Deutschland 1933 verlassen und gingen in die USA, wo Sie die amerikanische Staatsbürgerschaft annahmen. Wir wollen nun der schwierigen Frage nachgehen, wie es möglich war, dass die Nazis sich in Deutschland an der Macht halten konnten. Wie war es möglich, dass in diesem Land nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterschieden wurde? Wie konnte es zu dem Holocaust kommen?

Hannah Arendt: Es gab nicht nur die grauenhafte Tatsache der mit Sorgfalt errichteten Todesfabriken und das völlige Fehlen von Heuchelei bei jener sehr erheblichen Zahl von Personen, die an dem Ausrottungsprogramm beteiligt waren. Gleich wichtig, doch vielleicht noch erschreckender war die selbstverständliche Kollaboration seitens aller Schichten der deutschen Gesellschaft, einschließlich der alteingesessenen Eliten, die die Nazis unangetastet gelassen hatten und die sich mit der Partei an der Macht niemals identifizierten. Das Nazi-Regime hat in der Tat einen neuen Wertekanon angekündigt und ein ihm entsprechendes Rechtssystem eingeführt. Es hat darüber hinaus den Beweis erbracht, dass niemand ein überzeugter Nazi sein musste, um sich anzupassen und nicht seine gesellschaftliche Stellung, wohl aber die moralischen Überzeugungen, die einst mit ihr einhergingen, gleichsam über Nacht zu vergessen.

Hannah Arendt, Über das Böse, Piper Verlag, München, März 2013, S.15-16

Orelie: Moralische Werte, die man glaubte, dass Sie Bestand haben, wurden nicht mehr anerkannt und mit Füßen getreten. Wie konnte es dazu kommen?

Hannah Arendt: Die Moral zerbrach und wurde zu einem bloßen Kanon von „mores” – von Manieren, Sitten, Konventionen, die man beliebig ändern kann – nicht bei den Kriminellen, sondern bei den gewöhnlichen Leuten, die sich, solange moralische Normen gesellschaftlich anerkannt waren, niemals hatten träumen lassen, dass sie an dem, was sie zu glauben gelehrt worden waren, hätten zweifeln können. Und diese Angelegenheit, das heißt das damit aufgeworfene Problem, ist nicht abgeschlossen, wenn wir zugeben müssen, dass die Nazi-Doktrin sich im deutschen Volk nicht gehalten hat, dass Hitlers verbrecherische Moral sich ganz geschwind zurückverwandelte, als die „Geschichte” die Niederlage anzeigte.

Über das Böse, S.16-17

Orelie: Es gab auch Ausnahmen, Menschen, die sich nicht gleichschalten ließen. Was wollen Sie über diese Personen sagen?

Hannah Arendt: Wenn Sie sich die Wenigen, die sehr Wenigen, die im moralischen Zusammenbruch von Nazi-Deutschland vollkommen heil und schuldlos blieben, näher ansehen, werden Sie entdecken, dass diese nie so etwas wie einen großen moralischen Konflikt oder eine Gewissenskrise durchgemacht haben. Sie haben sich über die verschiedenen Punkte: des kleineren Übels, der Treue gegenüber ihrem Land beziehungsweise ihrem Eid oder worum es sonst noch gegangen sein mag, nicht viel Gedanken gemacht. Sie mögen das Für und Wider von Handlungen diskutiert haben, und es gab immer viele Gründe, die dagegen sprachen, dass da Chancen waren, erfolgreich zu sein; sie mögen auch Angst gehabt haben, und es gab in der Tat viel zu befürchten. Doch nie haben sie daran gezweifelt, dass Verbrechen auch dann, wenn sie von der Regierung legalisiert waren, Verbrechen blieben, und dass es besser war, sich unter allen Umständen an diesen Verbrechen nicht zu beteiligen.

Über das Böse, S.51-52

Orelie: Und wie sehen Sie die Tatsache, dass Menschen, von denen man es nie für möglich gehalten hätte, Verbrechen begangen haben oder sich an Verbrechen beteiligten?

Hannah Arendt: Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, dass sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob denn niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten gehabt und immer nur Befehle befolgt. Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.

Über das Böse, S.101

Orelie: Frau Arendt, was wollen Sie abschließend sagen, was fürchten Sie für die Zukunft?

Hannah Arendt: So fürchte ich, dass jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist. Und damit verbunden und nur ein bisschen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen „skandala”, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität.

Über das Böse, S.149-150

Orelie: Frau Hannah Arendt, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.