Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Vincent van Gogh – Kunstschaffen

Orelie: Guten Tag, Herr Vincent van Gogh, ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Wir wollen über den Schmerz und die Natur sprechen, da beide sich aus Ihrem Leben und Ihrer Kunst nicht wegdenken lassen. Ihr Empfinden des Schmerzes, Ihr Wahrnehmen der Natur und Ihr künstlerisches Schaffen durchdringen sich und beeinflussen einander. Wie dies geschieht wollen wir bei unserem Gespräch erörtern und so lassen Sie uns beginnen. Während Ihrer Zeit als Evangelist bei den Bergleuten im Borinage, einem Bergbaugebiet in Belgien, haben Sie das mühevolle Leben der Grubenarbeiter kennengelernt, und wie diese schmerzlichen Erfahrungen Ihr künstlerisches Schaffen prägten, teilten Sie Ihrem Bruder Theo mit.

Vincent van Gogh: Ich zeichne oft bis spät in die Nacht, um ein paar Erinnerungen festzuhalten und Gedanken zu klären, die sich mir beim Sehen der Dinge unwillkürlich aufdrängen. Ich habe eine Zeichnung gemacht, die Bergleute darstellt, Kohlenarbeiter und -arbeiterinnen, wie sie frühmorgens im Schnee zur Grube gehen, auf einem Pfad an den Hecken hin, kaum wahrnehmbare Schatten in der Morgendämmerung. Im Hintergrund undeutlich gegen den Himmel die großen Grubengebäude und das Fördergerüst. Das Gegenstück stellt die Heimkehr der Bergarbeiter dar, es ist sehr schwer, denn es geht darum, die Wirkung dunkler, vom Licht umrissener Silhouetten gegen einen geflammten Sonnenuntergangshimmel herauszubekommen.

Vincent van Gogh, Briefe an seinen Bruder, Anaconda Verlag, Köln, 2006, S.79, 86-87

Orelie: Sie spielten auch mit dem Gedanken, das Borinage zu malen? Es war ein groß angelegtes Projekt, für das Sie andere Maler gewinnen wollten.

Vincent van Gogh: Das Borinage zu malen, wäre etwas so Schwieriges, in gewisser Hinsicht sogar Gefährliches, wie man es nur nötig hat, um ein Leben zu führen, dem Ruhe und Freude ziemlich fern bleiben. Aber ich würde es trotzdem in Angriff nehmen, wenn ich könnte, nämlich wenn ich nicht mit Sicherheit voraussähe, dass die Kosten meine Mittel übersteigen würden. Fände ich Leute, die sich dafür oder für ein ähnliches Unternehmen interessierten, so würde ich es wagen.

Briefe an seinen Bruder, S.206-207

Orelie: Sie mussten Ihr Vorhaben aufgeben und zogen sich bald darauf in die Landschaft von Courrières in Frankreich zurück. Erzählen Sie von Ihrem Leben in dieser Gegend?

Vincent van Gogh: Der französische Himmel schien mir viel zarter und durchsichtiger als der verräucherte, neblige Himmel des Borinage. Selbst in Courrières gab es noch ein Kohlenbergwerk oder eine Grube, ich sah die Bergleute von der Tagesschicht in der Abenddämmerung ausfahren; aber es gab keine Arbeiterinnen in Männerkleidung wie im Borinage, nur Bergarbeiter mit müden, elenden Gesichtern, schwarz von Kohlenstaub, in ihren Arbeitslumpen, einer von ihnen in einem alten Soldatenmantel. Obwohl dieser Ausflug mich bis zum äußersten angestrengt hat und ich vor Müdigkeit völlig erschöpft, mit wunden Füßen und in einem recht trübseligen Zustand nach Hause kam, bedaure ich ihn nicht, denn ich habe interessante Dinge gesehen, und man lernt gerade, wenn man am elendesten dran ist, mit anderen Augen sehen. Unterwegs habe ich hie und da ein paar Stücke Brot im Tausch gegen einige Zeichnungen erworben. Aber als ich mit meinen zehn Francs zu Ende war, musste ich die letzten Nächte auf freiem Felde schlafen, einmal in einem stehengebliebenen Wagen, der am Morgen ganz weiß von Reif war – ein ziemlich schlechtes Nachtlager; ein andermal in einem Reisighaufen, und einmal – das war ein bisschen besser – in einem angebrochenen Heuschober, wo ich mir eine etwas bequemere Höhlung zurechtmachen konnte, aber ein feiner Regen trug nicht gerade zum Wohlbefinden bei. Und doch fühlte ich gerade in diesem großen Elend meine Willenskraft zurückkehren, und ich habe mir gesagt: wie dem auch sei, ich komme schon wieder hoch, ich nehme den Bleistift wieder zur Hand, den ich in meiner großen Mutlosigkeit weggelegt habe; und ich mache mich wieder ans Zeichnen; und seitdem hat sich, wie mir scheint, alles gewandelt, ich bin auf gutem Wege, und mein Stift ist etwas folgsamer geworden und scheint es von Tag zu Tag mehr zu werden.

Briefe an seinen Bruder, S.89

Orelie: In Ihrer Zeichnung Sorrow stellten Sie Clasina Maria Hoornik dar, die Sie Sien nennen. Sie halfen der schwangeren Frau vor und nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Sien stand Ihnen Modell und wohnte eine Zeitlang mit Ihnen zusammen. Doch drückt dieser Sie quälende Schmerz auch das Verhältnis zu Ihren Eltern aus, von denen Sie sich missverstanden fühlten.

Vincent van Gogh: Ich glaube, ich hätte «Sorrow» oder «Schmerz» nicht zeichnen können, wenn ich nicht selber mitfühlte. Es ist mir jedoch seit diesem Sommer sehr deutlich geworden, dass die Missstimmung zwischen Pa, Ma und mir sich zu einem Leiden chronischer Art entwickelt hat, denn das tiefe Missverstehen und die Entfremdung zwischen uns haben viel zu lange gedauert, so dass wir, nun es einmal soweit ist, beiderseits darunter leiden müssen. Es ist so, dass ich für Pa und Ma ein halb sonderbarer, halb ärgerniserregender Mensch und bitterwenig mehr bin, und ich meinerseits habe zu Hause auch ein leeres und einsames Gefühl. Anschauungen und Beruf gehen so weit auseinander, dass wir, ohne es zu wollen, uns gegenseitig im Wege sind. Das ist freilich ein sehr schmerzliches Gefühl, aber Welt und Leben sind voll von solchen Verhältnissen, und ach, eigentlich stiften wir keinen Nutzen, sondern eher Schaden, wenn wir es einander vorwerfen, und manchmal ist es das beste, in solchen Fällen einander aus dem Wege zu gehen. Ich weiß aber nicht genau, ob dies das beste ist oder etwas anderes, ich wollte, ich wüsste es.

Briefe an seinen Bruder, S.138

Orelie: Ihr Bruder Theo legte bei Ihren Eltern ein gutes Wort für Sie ein, und Sie selbst sagten gerade, dass Sie nicht wissen, was das beste wäre. Haben Sie die Hoffnung, dass Ihre Eltern mit der Zeit Ihrer Kunst wohlwollender gegenüber stehen werden?

Vincent van Gogh: Ich schätze sie sehr; jedoch ich fürchte, dass alles wieder auftauchen wird, vor allem, wenn sie mich wiedersehen. Sie werden nie verstehen, was Malen ist, werden es nie in den Kopf kriegen können, dass die Figur eines Grabenden – ein paar Furchen gepflügter Boden – ein Stück Sand, Meer und Himmel ernst zu nehmende Bildstoffe sind und so schwer, aber auch so schön, dass es sehr wohl verlohnt, sein Leben dranzusetzen, um die Poesie wiederzugeben, die darin liegt. Und wenn sie im Laufe der Zeit sehen würden, wie ich mich mit meiner Arbeit abschinde und quäle, wie ich immer wieder abkratze und verändere – wie ich einmal streng mit der Natur vergleiche – und dann wieder eine Veränderung anbringe, so dass sie den Fleck oder die Figur nicht mehr genau erkennen, dann wird das stets eine Enttäuschung für sie bleiben – sie werden nicht begreifen können, dass das Malen nicht so auf einmal geht, und immer wieder auf den Gedanken verfallen, «dass ich mich eigentlich nicht darauf verstehe» und dass richtige Maler ganz anders arbeiten würden. Kurz, ich wage mir keine Illusionen zu machen.

Briefe an seinen Bruder, S.177

Orelie: Ihr Einfühlen in die Natur und ihre Arbeit als Künstler gehören zusammen. Können Sie erklären, warum die Natur aus Ihrer künstlerischen Arbeit nicht wegzudenken ist, ja dass sie geradezu das Fundament für diese legt?

Vincent van Gogh: Jeder, der mit Liebe und Einsicht arbeitet, hat gerade in seiner aufrichtigen Liebe zu Natur und Kunst eine Art Panzer gegen die Meinung der Menschen. Die Natur ist auch streng und gewissermaßen hart, doch trügt sie nie und hilft immer vorwärts. Wenn ich keine Liebe zur Natur und zu meiner Arbeit hätte, so wäre ich unglücklich. Aber je schlechter ich mit den Menschen auskomme, um so mehr lerne ich, der Natur vertrauen und mich in sie vertiefen. Alle diese Dinge machen mich innerlich immer freier. Ich habe keine Angst vor einem frischen Grün. Als ich wieder an die Fischtrocknerei kam, war in den Körben voll Sand im Vordergrund ein üppiges, ganz frisches wildes Grün von Raps oder Rübsen aufgegangen. Vor zwei Monaten war alles ganz öde, und jetzt brachte dieses derbe, üppig aufgeschossene Grün als Gegensatz zu der Dürftigkeit alles übrigen eine ungeheuer reizvolle Wirkung zustande.

Briefe an seinen Bruder, S.171

Orelie: Welchen Vorwurf machen Sie den Kunstkennern und Kritikern im Hinblick auf die Natur?

Vincent van Gogh: Ich glaube, wenn Kritiker und Kenner mehr mit der Natur vertraut wären, so würde ihr Urteil richtiger sein als jetzt, da es üblich ist, nur in Bildern zu leben und die miteinander zu vergleichen, was natürlich als eine Seite der Frage im Zusammenhang sein Gutes hat; doch es entbehrt der gediegenen Grundlage, wenn man die Natur vergisst und nicht tiefer blickt. Man muss die Natur genau und lange betrachten, ehe man zu der Überzeugung kommt, dass das Ergreifendste, was die großen Meister gemalt haben, seinen Grund im Leben und in der Wirklichkeit selbst hat, einen Urgrund echter Poesie, der ewig als Tatsache besteht und gefunden werden kann, wenn man tief genug gräbt und sucht.

Briefe an seinen Bruder, Band 2, S.42

Orelie: Die Natur, das Leben, die Stimmung, die Vertrautheit und Echtheit sind Worte, mit denen sie Ihr Malen beschreiben. Können Sie das veranschaulichen?

Vincent van Gogh: Ich beschreibe die Natur; inwieweit ich die in meiner Skizze wiedergegeben habe, weiß ich selbst nicht. Als ich daran arbeitete, habe ich mir gesagt: ich gehe nicht weg, bevor nicht etwas Herbstabendliches drin ist, etwas Geheimnisvolles, etwas, wo Ernst drinsteckt. Ich muss aber – da diese Stimmung nicht anhält – schnell malen, die Figuren sind mit ein paar kräftigen Strichen in einem Zuge hingesetzt, mit einem derben, großen Pinsel. Es fiel mir auf, wie fest die Stämmchen im Boden steckten; ich hab sie mit dem Pinsel angefangen, aber weil der Boden schon dick aufgetragen war, versank ein Pinselstrich drin wie nichts, da hab ich die Wurzeln und Stämme aus der Tube hineingedrückt – und sie ein bisschen mit dem Pinsel modelliert. Nun stehen sie drin, wachsen draus heraus, sind kraftvoll drin verwurzelt. In gewissem Sinne bin ich froh, dass ich Malen nicht gelernt habe. Vielleicht hätte ich dann gelernt, an Effekten wie diesem vorbeizulaufen, jetzt sage ich, nein, gerade das muss ich haben.

Briefe an seinen Bruder, S.180-181

Orelie: Und so entsteht Kunst. Aber Sie machen auch sehr viele Skizzen, Studien und wechseln oft Ihre Motive. Nach dem Malen einer Landschaft, beginnen Sie mit einer Figur. Wie schätzen Sie selbst Ihre Arbeit ein?

Vincent van Gogh: Ich fühle die Kraft in mir, etwas zu schaffen, ich sehe, dass meine Arbeiten neben den Arbeiten anderer bestehen können, und das macht mit eine ungeheure Lust zum Arbeiten. Wenn ich mehr Bewegungsfreiheit hätte, könnte ich wohl mehr machen, aber mit meiner künstlerischen Arbeit bin ich zum Teil von meinem Geldbeutel abhängig.

Briefe an seinen Bruder, Band 2, S.92

Orelie: Und wie sehen Sie die Zukunft?

Vincent van Gogh: Ich sehe die Zukunft nicht schwarz, aber ich sehe sie voller Schwierigkeiten, und manchmal frage ich mich, ob diese Schwierigkeiten nicht stärker sein werden als ich. Besonders in Augenblicken körperlicher Schwäche. Weil ich jahrelang völlig allein gearbeitet habe, bilde ich mir ein, dass ich doch stets durch meine eigenen Augen sehen und die Dinge auf meine Art anpacken werde, auch wenn ich von anderen lernen und sogar technische Dinge übernehmen will und kann.

Briefe an seinen Bruder, Band 2, S.140, 85

Orelie: Herr Vincent van Gogh, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.