Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Albert Camus – Der Fremde

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Orelie: Guten Tag, Herr Albert Camus, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem wir über Ihren Roman Der Fremde sprechen wollen. Dieser Roman, der zur gleichen Zeit wie Ihr Essay Der Mythos des Sisyphos erschienen ist, machte Sie berühmt. In beiden Werken geht es Ihnen um die Konfrontation des Menschen mit dem Absurden seiner Existenz. Mersault, der  Ich-Erzähler, begeht einen Mord, ohne sich zuvor zu dieser Tat entschlossen zu haben. Vor Gericht sagt er aus, dass es wegen der Sonne gewesen sei, denn in Ihrem Roman fungiert die Sonne gleichsam als Sinnbild für das Absurde. Können Sie  eine Stelle zitieren, aus der das hervorgeht?

Albert Camus: Alles kam hier zwischen dem Meer, dem Sand und der Sonne, der zweifachen Stille der Flöte zum Stillstand. Ich habe in dem Moment gedacht, man könnte schießen oder nicht schießen. Ich dachte an die kühle Quelle hinter dem Felsen. Ich hatte Lust, das Murmeln ihres Wassers wiederzuhören, Lust, der Sonne, der Anstrengung und den Frauentränen zu entfliehen, Lust, den Schatten und seine Ruhe wiederzufinden. Aber als ich näher heran war, habe ich gesehen, dass Raymonds Typ zurückgekommen war. Er lag entspannt auf dem Rücken, die Hände unter dem Nacken, den Kopf im Schatten des Felsens, mit dem Körper ganz in der Sonne. Ich habe gedacht, dass ich nur umzukehren brauchte, und es wäre vorbei. Aber der ganze vor Sonne flimmernde Strand drängte sich hinter mir. Das Brennen der Sonne stieg mir in die Wangen, und ich habe gespürt, dass sich Schweißtropfen in meinen Augenbrauen sammelten. Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, als ich Mama beerdigt habe, und wie neulich tat mir vor allem die Stirn weh, und alle ihre Adern pochten auf einmal unter der Haut.

Albert Camus, Der Fremde, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2010, S.82,84-85

Orelie: Mersault beginn den Mord, um sich gewissermaßen des Absurden zu entledigen. Aber wessen wird er sich bewusst?

Albert Camus: Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt. Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war.

Der Fremde, S.87

Orelie: Herr Camus, können Sie das Absurde definieren?

Albert Camus: An sich ist diese Welt nicht vernünftig – das ist alles, was man von ihr sagen kann. Absurd aber ist der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird.

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2004, S.33

Orelie: Erhofft sich Mersault aus diesem Grund auch nichts von der Rede seines Anwalts, denn was nimmt er während dessen Plädoyer wahr?

Albert Camus: Letzten Endes erinnere ich mich nur, dass, während mein Anwalt weiterredete, von der Straße her durch die ganze Flucht von Sälen und Hallen die Trompete eines Eismanns zu mir gedrungen ist. Ich wurde von den Erinnerungen an ein Leben überfallen, das nicht mehr mir gehörte, in dem ich aber meine kargsten und beharrlichsten Freuden gefunden hatte: Sommergerüche, das Viertel, das ich liebte, einen bestimmten Himmel, das Lachen und die Kleider von Marie. Die ganze Nutzlosigkeit dessen, was ich an diesem Ort tat, ist mir da wieder aufgestoßen, und ich wollte es nur schleunigst hinter mich bringen und in meine Zelle samt dem Schlaf zurückkehren.

Der Fremde, S.149-150

Orelie: Und wie verläuft das Gespräch mit dem Anstaltsgeistlichen, bei dem Mersault seinen angestauten Groll auf das Absurde und so auch auf den Tod nicht mehr zurückhalten kann, als der Priester sagt, dass er für ihn beten werde?

Albert Camus: Nichts, nichts wäre von Bedeutung, und ich wüsste genau, warum nicht. Er wüsste es auch. Aus der Tiefe meiner Zukunft stiege während dieses ganzen absurden Lebens, das ich geführt hätte, ein dunkler Atem zu mir auf, durch Jahre hindurch, die noch nicht gekommen wären, und dieser Atem machte auf seinem Weg all das gleich, was man mir in den genauso unwirklichen Jahren böte, die ich lebte. Was scherte mich der Tod der anderen, die Liebe einer Mutter, was scherte mich sein Gott, die Leben, die man wählt, die Bestimmungen, die man erwählt, da eine einzige Bestimmung mich erwählen sollte, mich und mit mir Milliarden von Privilegierten, die sich, wie er, meine Brüder nannten. Begriffe er denn nicht? Alle Welt wäre privilegiert. Es gäbe nur Privilegierte.

Der Fremde, S.172

Orelie: Doch bleiben Sie bei dieser Feststellung nicht stehen, sondern befürworten die Liebe zum Leben. So lehnen Sie in Ihrem Essay Der Mythos des Sisyphos den Selbstmord eindeutig ab, und in Ihrem Roman Der Fremde denkt Mersault kurz vor seiner Hinrichtung an seine Mutter, die noch im Altersheim eine liebevolle Beziehung zu einem Menschen unterhielt.

Albert Camus: Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit habe ich an Mama gedacht. Mir schien, dass ich verstand, warum sie sich am Ende eines Lebens einen „Bräutigam” zugelegt hatte, warum sie gespielt hatte, dass sie neu anfinge. Dort, auch dort, rings um dieses Altersheim, in dem Leben erloschen, war der Abend wie eine melancholische Atempause. Dem Tod so nahe, hatte Mama sich dort befreit gefühlt und bereit, alles noch einmal zu leben. Niemand, niemand hatte das Recht, sie zu beweinen.

Der Fremde, S.173-174

Orelie: Herr Albert Camus, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.