Orelie: Ich begrüße den Theologen Karl Rahner und den Schriftsteller Albert Camus. Wir wollen über Ihre Auffassung der Geschichte sprechen. Sie, Herr Camus, suchen in dem Manuskript Ihres Romans Der erste Mensch nach Ihrer Herkunft und so auch nach Ihrem Vater, den Sie nicht kannten, weil er im Ersten Weltkrieg bei der Schlacht an der Marne lebensgefährlich verwundet wurde und am 11. Oktober 1914 in Saint-Brieuc starb. Sie gaben sich in dem Roman den Namen Jacques Cormery, der das Grab seines Vaters in dem Karree des Souvenir français auf dem Friedhof von Saint-Brieuc aufsuchte. Beim Lesen des Geburts- und Todesjahrs seines Vaters wurde er sich plötzlich bewusst, dass der hier begrabene Mann jünger als er war. Welche Gefühle werden in ihm wach?
Albert Camus: Und die Welle von Zärtlichkeit und Mitleid, die auf einmal sein Herz überflutete, war nicht die Gemütsregung, die den Sohn bei der Erinnerung an den verstorbenen Vater überkommt, sondern das verstörte Mitgefühl, das ein erwachsener Mann für das ungerecht hingemordete Kind empfindet – etwas entsprach hier nicht der natürlichen Ordnung, und eigentlich herrschte hier, wo der Sohn älter war als der Vater, nicht Ordnung, sondern nur Irrsinn und Chaos. Er sah sich die anderen Steinplatten des Karrees an und erkannte an den Lebensdaten, dass dieser Boden angefüllt war mit Kindern, die die Väter von ergrauenden Männern gewesen waren, welche in diesem Augenblick zu leben vermeinten.
Albert Camus, Der erste Mensch, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.28,29
Orelie: Jacques Cormery besuchte auch den Friedhof von Mondovi, dem Dorf in dessen Geburtenregister Ihre Geburt eingetragen wurde. Was wollen Sie hierzu sagen?
Albert Camus: Das Mittelmeer trennte in mir zwei Welten, die eine, wo auf abgemessenen Flächen Erinnerungen und Namen konserviert waren, die andere, wo der Sandwind die Spuren der Menschen auf weiten Flächen auslöschte. Er hatte versucht, der Anonymität, dem Leben in Armut und eigensinniger Unwissenheit zu entrinnen, er hatte nicht auf der Ebene dieser blinden Geduld ohne Sätze, ohne anderes Vorhaben als das Unmittelbare, leben können. Er hatte sich in der Welt herumgetrieben, hatte Wesen errichtet, erschaffen, verbrannt, seine Tage waren berstend voll gewesen. Und doch wusste er jetzt im Grunde seines Herzens, dass Saint-Brieuc und das, was es repräsentierte, nie etwas für ihn bedeutet hatten, und er dachte an die verwitterten, grün gewordenen Steinplatten, von denen er gerade weggegangen war, und akzeptierte mit einer irgendwie seltsamen Freude, dass der Tod ihn in seine wahre Heimat zurückführte und sein unermessliches Vergessen über die Erinnerung an den monströsen und banalen Mann legte, der ohne Beistand und ohne Hilfe an einem glücklichen Gestade und im Licht der ersten Morgen der Welt in Armut groß geworden war und etwas aufgebaut hatte, um dann allein, ohne Erinnerung und ohne Glauben, in der Welt der Menschen seiner Zeit und ihrer schrecklichen, erregenden Geschichte zu landen.
Ibid. S.168
Orelie: Können wir sagen, dass es für Sie, Herr Albert Camus, darauf ankommt, das Dasein des Menschen und ein ihm eigenes Naturgefühl höher zu werten als die Beispiele der Geschichte?
Albert Camus: Indem der Mensch die Wüsten bevölkerte, jeden Streifen Strand in Grundstücke aufteilte, sogar den Himmel mit groben Flugzeugstrichen schraffierte und nur jene Gegenden schonte, wo der Mensch eben nicht leben kann, hat gleichermaβen und zur gleichen Zeit das Geschichtsgefühl nach und nach das Naturgefühl im Herzen der Menschen unter sich begraben und dabei dem Schöpfer entzogen, was ihm bis dahin zukam, um es dem Geschöpf zurückzugeben, und dies alles in einer so mächtigen und unaufhaltsamen Bewegung, dass wir den Tag voraussehen können, an dem die stille Schöpfung der Natur restlos durch die scheuβliche, aufdringliche Schöpfung des Menschen verdrängt sein wird, die vom Geschrei der Revolution und Kriege dröhnt, vom Lärm der Fabriken und der Eisenbahn, unwiderruflich schlieβlich und siegreich im Ablauf der Geschichte; und dann hat sie ihre Aufgabe auf dieser Erde erfüllt, die vielleicht darin bestand, zu demonstrieren, dass alles noch so Groβartige und Erstaunliche, was sie in Jahrtausenden zu vollbringen vermochte, nicht soviel wert war wie der flüchtige Duft der Heckenrose, das Tal der Olivenbäume, der Lieblingshund.
Albert Camus, Tagebücher 1935-1951, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.353-354
Orelie: Kommen wir zu Ihnen, Herr Karl Rahner. In Ihrem Buch Zur Theologie der Zukunft haben Sie in dem Kapitel Weltgeschichte und Heilsgeschichte Wesenszüge des Christentums herausgestellt und hier widersprechen Sie ebenfalls einer Geschichtsauffassung, nach der die Weltgeschichte sich positiv weiterentwickelt und schließlich auf den ewigen Frieden zusteuert.
Karl Rahner: Das Christentum kennt keine Geschichte, die aus ihrer inneren Dynamik heraus sich in das Reich Gottes selbst hinein entwickelt, ob man dieses Reich als Reich des aufgeklärten Geistes, der völlig zivilisierten Menschen, der klassenlosen Gesellschaft oder wie immer konzipieren will. Das Christentum bestreitet, dass sich die Weltgeschichte auf den ewigen Frieden hin entwickelt, wenn dies auch nicht heiβt, dass der Krieg, der immer sein wird, gerade mit Hellebarden oder Atombomben ausgetragen werden müsse. Das Christentum weiβ, dass jeder Fortschritt in der Profangeschichte auch ein Schritt zur Möglichkeit gröβerer Gefährdung und tödlicher Abstürze ist. Die Geschichte wird nie die Stätte des ewigen Friedens und des schattenlosen Lichtes sein, sondern das Land des Todes und der Finsternis, wenn dieses Dasein gemessen wird an dem absoluten Anspruch des Menschen, den zu stellen Gott dem Menschen die Möglichkeit, ja sogar die unausweichliche Pflicht schenkt.
Karl Rahner, Zur Theologie der Zukunft, Deutscher Taschenbuch Verlag mit freundlicher Genehmigung des Benziger Verlages, Mai 1971, S.24,25
Orelie: Es kann festgehalten werden, dass Sie beide die Geschichte der Menschheit skeptisch beurteilen. Auch erteilen Sie jedem Absolutheitsanspruch der Geschichte eine Absage. Doch im Gegensatz zu Herrn Camus sehen Sie, Herr Rahner, die Geschichte in ihrem Zusammenhang mit dem Heil. Und hierbei muss festgehalten werden, dass der Mensch von sich aus nicht in der Lage ist, irgendeinen Zustand in der Geschichte und der Welt als sein Heil zu erkennen. Das Heil ist kein Besitz des Menschen und lässt sich in der Welt nicht ausfindig machen.
Karl Rahner: Heil ist nirgends einfach in der Welt antreffbar. Es wäre sogar eine absolute Grundhäresie, wollte ein Mensch irgendeinen antreffbaren Zustand in der Welt, der schon gegeben ist oder vom Menschen selbst durch eigene Planung und Tat realisiert werden kann, als sein Heil verstehen, also als das eigentlich Gemeinte, das Endgültige und Beseligende. Das Heil als absolut transzendentes Geheimnis, als das von Gott her unverfügbar Kommende gehört zu den Grundvorstellungen des Christentums. Das vollendete Heil ist kein Moment in der Geschichte, sondern deren Aufhebung, kein Gegenstand des Besitzes oder der Herstellung, sondern des Glaubens, der Hoffnung und des Gebetes. Und dadurch sind alle innerweltlichen Heilsutopien schon als verdammende Lehren verworfen.
Ibid. S.9
Orelie: Doch ereignet sich Heil dennoch jetzt und zwar als Selbstmitteilung Gottes. Können Sie das erläutern?
Karl Rahner: Die Gnade Gottes wird dem Menschen zuteil als wirklich schon jetzt gegebene, als angenommene und innerlich verwandelnde. Und diese Gnade ist, weil sie im Grunde die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen ist, nicht bloß Vorläufiges, nicht bloß Mittel zum Heil, oder dessen Ersatz, sondern dieses Heil selbst.
Ibid. S.10
Orelie: Und hier verweisen Sie auf Jesus Christus.
Karl Rahner: Jesus hat, wie die Geschichte zeigt, ein durchaus echtes, kreatürliches Verhältnis zu Gott gehabt. Er hat gebetet, er hat um den Willen Gottes gerungen, er hat seine echt menschlichen, auch religiösen, Erfahrungen gemacht usw. Aber eben diese ganz menschliche Wirklichkeit war eben die, in der Gott selber echt da sein konnte und in der Geschichte dieses Menschen, natürlich Tod und Auferstehung eingeschlossen, sich selber unwiderruflich der Welt zugesagt hat.
Karl Rahner, Was heißt Jesus lieben?, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1982, S.39-40
Orelie: Was bedeutet das für den Menschen und insbesondere für den Christen?
Karl Rahner: In diese entgöttlichte Welt ist der Mensch hinausverwiesen. Er lebt nicht einfach nur in der Heilsgeschichte. Er ist Christ und wirkt sein Heil, gerade indem er die Nüchternheit des Profanen auf sich nimmt, das nicht schon das Heil selber ist. Die Heilsgeschichte schickt also den Heilssuchenden auch in die profane Geschichte hinaus, die dunkel, ungedeutet, unübersehbar, Aufgabe bleibt, und gebietet ihm, es darin auszuhalten, sich darin zu bewähren, im Ungedeuteten an den Sinn zu glauben, so gerade Gott als das Heil anzunehmen.
Karl Rahner, Zur Theologie der Zukunft, a.a.O., S.22,23
Orelie: Sie, Herr Camus, klagen das Unerklärbare, Ungerechte und den Tod in der Geschichte an. Und Sie befürworten die Revolte, die in der Natur und der Schönheit eine allen Menschen gemeinsame Würde erkennt.
Albert Camus: Die Geschichte hat vielleicht ein Ende; unsere Aufgabe ist es jedoch nicht, sie zu beendigen, sondern sie nach dem Bilde dessen zu erschaffen, das wir fortan als wahr erkennen. Die Kunst lehrt uns zumindest, dass der Mensch sich nicht mit der Geschichte erschöpft und dass er auch in der Natur einen Lebensgrund findet. Man kann die ganze Geschichte ablehnen und doch mit der Welt der Sterne und des Meers übereinstimmen. Die Revoltierenden, die die Natur und die Schönheit ignorieren wollen, verurteilen sich dazu, aus der Geschichte, die sie machen wollen, die Würde der Arbeit und des Seins zu verbannen. Alle großen Erneuerer versuchen, in der Geschichte aufzubauen, was Shakespeare, Cervantes, Molière, Tolstoi zu schaffen gewusst haben: eine Welt, immer bereit, den Hunger nach Freiheit und Würde zu stillen, der jedem Menschen ins Herz gesenkt ist.
Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1969, S.313-314
Orelie: Auch für Sie, Herr Rahner, ist es eine Notwendigkeit für die Christen, trotz allem an einer positiveren Gestaltung der Welt teilzunehmen, wozu ihr Glaube an die absolute Zukunft sie direkt anweist. So schreiben Sie von dem Humanismus als gemeinsame Verpflichtung für die Zukunft.
Karl Rahner: Wenn wir reflektieren auf die christliche Lehre von der Einheit der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe, die den konkreten menschlichen Daseinsraum betrifft und nicht bloß die Sphäre privater Interkommunikation meint, wenn wir bedenken, dass der wirkliche, nicht bloß theoretisch reflektierte Akt des Sichöffnens auf die absolute Zukunft Gottes hin nur am konkreten Akt des Vorgriffs auf die konkrete, zu schaffende Zukunft hin geschehen kann, wenn klar ist, dass die Freisetzung der weltlichen Welt nicht ein Vorgang ist, mit dem sich das Christentum notgedrungen abfindet, sondern selbst ein Akt des Christentums selbst ist aus seinem Verständnis Gottes und der Inkarnation des Logos selbst, dann ist auf jeden Fall zu sagen, dass die schöpferische Erfindung einer humanen Zukunft nicht etwas ist, was auch ein Christ nebenbei treiben kann, sondern die Vermittlung für seine reale, nicht nur theoretische Bereitschaft gegenüber der absoluten Zukunft Gottes ist.
Karl Rahner, Politische Dimensionen des Christentums, Kösel Verlag, München, 1986, S.23,24