Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Jacques Loew – Eine Glaubensgeschichte

Orelie: Guten Tag Herr Jacques Loew. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über Ihren Glauben an Gott sprechen wollen. Was möchten Sie als erstes dazu sagen?

Jacques Loew: Ich muss sagen: Ich habe Gott erkannt, der auf mich gewartet hat. „Der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht”, dieser Ruf, den damals, vor fast viertausend Jahren, der Patriarch Jakob in der Wüste ausgestoßen hat, bleibt immer wahr. Gott war da, aber ich wusste es nicht.

Jacques Loew, Er gab mir ein Zeichen, Herder Verlag, Freiburg, 1986, S.5-6

Orelie: Bevor Sie zu Gott fanden, waren Sie mit der katholischen sowie protestantischen Religion vertraut gemacht worden. Ihre Eltern waren katholisch, doch ließ ihr Vater, ein Dreyfus Anhänger, Sie lieber im Protestantismus aufwachsen. Sie selbst standen der Religion gleichgültig gegenüber. Aber im Alter von fünfundzwanzig Jahren während eines Aufenthalts in einem Schweizer Sanatorium, wo Sie sich von einer tuberkulösen Erkrankung erholen mussten, hatten Sie ein entscheidendes Erlebnis mit einer Schneeflocke. Können Sie davon berichten?

Jacques Loew: Ich sammelte ein paar Flocken in eine kleine Untertasse; sie waren schon halb zerschmolzen, aber für die Untersuchung noch frisch genug. Und da hatte ich angesichts der Vollkommenheit einer jeden einzelnen von ihnen und angesichts ihrer Regelmäßigkeit und ihrer Vielfalt wirklich die schöpferische Eingebung eines Künstlers vor mir. Hinter jeder dieser Schneeflocken ahnte ich eine Intelligenz, einen gewaltigen Künstler. Mit der ebenso vollkommenen wie zarten Schönheit dieses Kristalls hielt bei mir die feste Gewissheit von einer unendlichen schöpferischen Schönheit und Intelligenz ihren Einzug. Wenn der Schnee schon so ist, wie könnte es dann Gott nicht geben? Einen Gott, der groß genug ist, eine flüchtige Schneeflocke mit seiner Gegenwart zu erfüllen. Das war meine erste Berührung mit der Existenz Gottes, ihre erste intuitive Erkenntnis.

Ibid, S.31-32

Orelie: Das war der Anfang und wie ging es weiter?

Jacques Loew: Dieser Kristall war ein Bote, ein Flüstern aus einem Sonstwoher, für das ich noch keinen Namen hatte, das ich aber nicht mehr bezweifeln konnte. Ein Flüstern, ein Widerschein…, aha, wird man sagen, Zeichen, die man kaum wahrnimmt, so hauchdünn wie der Schnee selbst. Aber gilt das nicht auch von jedem Samenkorn, das Leben in sich birgt? Und dieses Flüstern, dieser Widerschein haben in mir eine neue Sicht aufbrechen lassen, eine Sicht von bleibender Dauer wie ein Lebensquell.

Ibid, S.44

Orelie: Sie haben daraufhin Ihr genussreiches Leben als Anwalt in Nizza aufgegeben und sind Arbeiterpriester geworden. Sie arbeiteten als Docker in Marseille. Hierbei erstellten Sie für die Stiftung „Economie et Humanisme” eine Studie über die Arbeit im Hafen, die dazu führte, dass 1947 ein Gesetz beschlossen wurde, das den Hafenarbeitern einen festen Lohn garantierte. Als die Arbeiterpriester im Januar 1954 von ihrer kirchlichen Hierarchie die Anweisung erhielten, ihre Arbeit einzustellen, befolgten Sie Ihr Gehorsamsgelübde, was Sie den anderen Dockern mitteilten. Sie gründeten bald darauf die Arbeitermission St. Peter und Paul. Doch der Grundstein für diese Entschlüsse in Ihrem Leben ist Ihr mystisches Erlebnis mit der Schneeflocke. Können Sie sagen, wie Sie das empfinden?

Jacques Loew: Ja, mein Blick, der auf der vollkommenen Schönheit einer flüchtigen Schneeflocke ruhte, hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Von nun an sind die Dinge, vom Grashalm bis zu den Sternen, noch kostbarer, als sie schon von sich aus sind: sie verweisen mich auf diesen Anderen. Diese Sicht ist von bleibender Dauer, auch wenn mich seither nur noch einmal etwas so gepackt hat, dass es mir den Atem verschlug, zwanzig Jahre später, als ich planlos allein durch die Camargue streifte. Hinter einer Düne stand ich unversehens vor etwa hundert rosafarbenen Flamingos, für die unsere Begegnung ebenso überraschend war wie für mich. Kaum hatten sie mich wahrgenommen, flogen sie alle auf. Das herrliche, unverhoffte Schauspiel des schwarz-roten Streifenmusters ihrer ausgebreiteten Schwingen, das man in Ruhestellung nicht sieht, hat auf mich ebenso gewirkt wie der Schnee damals in der Schweiz: ich war gleich und für einen Augenblick mir selbst entrückt, woandershin, wie an den Ursprung der Welt.

Jacques Loew, Ibid., S.44-45

Orelie: Herr Loew, Sie sind ein Mensch, der mitten in seiner weltlichen Umgebung aktiv tätig ist. Was möchten Sie von daher zum Atheismus, dem Leid, dem Bösen, eben allem Weltlichen, dem Sie nicht ausweichen können, sagen? Und auch die Bibelforschung hat sich verändert.

Jacques Loew: Der Schnee, die rosafarbenen Flamingos und der heilige Franz von Assisi haben mich nicht dazu gebracht, mich im Märchenland der Blauen Blume anzusiedeln. Leid, Tod, Einsamkeit und Hass sind damit nicht ausradiert; seither bin ich in allen vier Erdteilen gewesen; und wie könnte ich, wenn ich offenen Auges die Schönheit des Alls betrachte, meine Augen vor dem Leid und den Wunden der Welt verschließen? Wie wären das Böse, das Unrecht, der Tod des Unschuldigen für mich wie auch für alle anderen Menschen kein Dorn im Fleisch? Und eine schmerzliche Frage an Gott! Nein, ich habe keine „Lösung” für das Problem des Bösen…, ich glaube nur fest, dass das Dunkel und die Tränen nicht das letzte Wort behalten, und dass sie niemals das Licht verschlingen können. Ich danke Nietzsche, Freud und Marx, dass sie mich zu einer kritischen Überprüfung meines Glaubens und der Beweggründe für meine Entscheidung gezwungen haben. Dankbare Anerkennung gebührt auch den Arbeiten der modernen Exegeten, die mich dazu gebracht haben, mich beim Aufschlagen der Bibel nicht mit fertigen Antworten zufrieden zu geben. Infolge der archäologischen und philologischen Erkenntnisse der letzten fünfzig Jahre hat sich vieles als nicht ganz so einfach erwiesen, wie man dachte, oder sogar als heute unhaltbar, weil es Geistesprodukt einer vergangenen Epoche war. Aber auch die Gewissheit, die der heilige Paulus mit den Worten „Ich weiß, wem ich Glauben geschenkt habe”, ausgedrückt hat, ist nur noch gewachsen.

Ibid., S.63 und S.106

Orelie: Können Sie diesen letzten Satz konkretisieren?

Jacques Loew:Hier gibt es nur eine einzige Richtschnur: das Wort Gottes. Das Ziel, das sich uns darbietet, ist daher, die Mission auf der Höhe zu halten, zu der das Wort Gottes uns einlädt, und die Mittel anzuwenden, die es von uns verlangt, das heißt, Missionare zu sein, wie die beiden Säulen der Kirche, Petrus und Paulus, sie zeichnen und haben wollen: als Menschen des Glaubens, die einen Sinn für die Prüfung haben und Zeugen für den Unsichtbaren sind. Die ewige Jugend der Kirche entspringt aus der ständigen Rückkehr zu ihren Quellen.

Auf Dein Wort hin, S.244

Orelie: Herr Loew, was möchten Sie abschließend sagen?

Jacques Loew:So bin ich denn schon fünfzig Jahre unablässig dabei, diesen Christus zu entdecken, und weiß wohl, dass ich kaum mehr vermag, als sein Geheimnis abzutasten. Aber selbst das erfüllt mich mit Freude und Vertrauen. Ebenso wie die Liebe in Gott kein Maß kennt, so bleibt auch Christus, der der Liebe dieses Gottes zu uns entstammt, für unsere Annäherungsversuche immer unerreichbar.

Er gab mir ein Zeichen, S.97

Orelie:Herr Jacques Loew, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.