Orelie: Zu unserem heutigen Gespräch begrüße ich Frau Hannah Arendt und Herrn Karl Rahner. Am 21. Juli 1969 betrat als erster Mensch Neil Armstrong den Mond. Es war ein außergewöhnliches Ereignis in der Menschheitsgeschichte. Was können Sie, Herr Karl Rahner als Theologie zu dieser einmaligen Begebenheit sagen?
Karl Rahner: Auch der Theologe weiß die innerweltlichen Zukünfte nicht vorauszusagen. Und so, meine ich, weiß auch er nicht, welche Bewusstseinsveränderungen tiefgehender Art die Mondfahrt, diese Art der Rationalität, der Technik und der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, hervorrufen wird. Ich meine, das Bewusstsein des Menschen ist bisher mit dieser Tat noch gar nicht mitgekommen. Wenn und insofern christlicher Glaube und seine Theologie mit diesem Selbstverständnis des Menschen etwas zu tun haben, sind tatsächlich christlicher Glaube und seine Theologie durch diese Mondlandung angerufen und herausgefordert. Nicht direkt durch das Vorkommnis selbst, sondern durch das, was es langsam erst noch an Bewusstseinsveränderung auslösen wird.
Karl Rahner, Kritisches Wort, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1970, S.233
Orelie: Und Sie, Frau Hannah Arendt, was sagen Sie als Philosophin dazu?
Hannah Arendt: Diese Frage fordert den Laien und den Humanisten heraus, über das zu urteilen, was der Naturwissenschaftler tut, weil es alle Menschen betrifft, und an dieser Debatte müssen sich die Naturwissenschaftler natürlich beteiligen, insofern sie Mitbürger sind. Selbst wenn die Antworten von Philosophen, deren Lebensweise die Einsamkeit ist, gegeben werden, werden sie im Meinungsaustausch vieler Menschen erreicht, von denen die meisten nicht mehr unter den Lebenden weilen mögen. Vorstellungen wie Leben, Mensch, Wissenschaft oder Erkenntnis sind definitionsgemäß vor-wissenschaftlich, und die Frage ist, ob die gegenwärtige Entwicklung der Naturwissenschaft, die zur Unterwerfung des Erdraumes und Invasion in den Weltraum geführt hat, diese Vorstellungen in solchem Ausmaß geändert hat, dass sie keinen Sinn mehr haben.
Hannah Arendt, In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II, Piper Verlag, München, 2000, S.375
Orelie: Sie haben auch geschrieben, dass der Mensch trotz seines Einstiegs in den Weltraum und somit die Astrophysik immer wieder auf Grenzen stoßen wird.
Hannah Arendt: Im Sinne dieser Entwicklung bedeutet der Versuch, den Weltraum zu erobern, dass der Mensch fähig zu sein hofft, zu dem archimedischen Punkt, den er mit bloßer Abstraktions- und Einbildungskraft antizipierte, zu reisen. Jedoch wenn er das tut, wird er norwendigerweise seinen Vorteil verlieren. Alles, was er finden kann, ist der archimedische Punkt im Hinblick auf die Erde, aber wenn er erst einmal dort angelangt ist und diese absolute Macht über seine irdische Wohnstatt erhalten hat, bräuchte er einen neuen archimedischen Punkt, und so ad infinitum. Mit anderen Worten: Der Mensch kann in der Weite des Universums nur verlorengehen, denn der einzig wahre archimedische Punkt wäre die absolute Leere hinter dem Universum.
In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II, S.386
Orelie: Ich wende mich wieder an Sie Herr Rahner und frage Sie, wie Sie das Ganze sehen?
Karl Rahner: Wenn jemand feststellt, Gott komme im Bereich der Naturwissenschaft und in der von ihr manipulierten Welt nicht vor, wenn jemand sagt, die Naturwissenschaft sei deswegen a priori in ihrer Methode a-theistisch, – dann widerspricht diesen Behauptungen der an Gott Glaubende nicht.
Karl Rahner, Gnade als Freiheit, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1968, S.19
Orelie: Sie nennen Gott das Geheimnis, das Unaussprechbare, das Schweigende und wie ist das im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft zu verstehen?
Karl Rahner: Es ist schon so: das Geheimnis ist das einzige Sichere und Selbstverständliche. Man kann das Leben, insofern man zwischen diesem und jenem hindurchfinden muss, mit Formeln der Wissenschaft meistern. Wenigstens auf weite Strecken mag das gelingen, und man greift glücklicherweise morgen noch ein gutes Stück weiter. Der Mensch selbst aber gründet im Abgrund, den keine Formel mehr auslotet. Man kann den Mut haben, diesen Abgrund zu erfahren als das heilige Geheimnis der Liebe. Dann kann man es Gott nennen.
Gnade als Freiheit, S.20,23