Orelie: Guten Tag, Herr Helmut de Terra. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über den Paläontologen und Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin sprechen wollen, den Sie bei gemeinsamen Forschungen kennengelernt haben und der Ihr Freund wurde. Wann sind Sie Teilhard zum ersten Mal begegnet?
Helmut de Terra: Dass ich Teilhard im Jahre 1933 bei dem Internationalen Geologenkongress in Washington zum ersten Mal begegnete, lag an der Gemeinsamkeit unserer Interessen. Diese hatten sich bis dahin ganz unabhängig voneinander entwickelt, obwohl wir beide in Innerasien geologische Forschungen unternommen hatten, bei denen wir auch auf Spuren des Urmenschen gestoßen waren.
Helmut de Terra, Mein Weg mit Teilhard de Chardin, Verlag C.H.Beck, München, 1962, S.17
Orelie: Worin bestand Teilhards besonderes Interesse an Ihren archeologischen Forschungen?
Helmut de Terra: Was Teilhard damals an meinem Forschungsbericht so besonders interessierte, waren die Funde einiger steinzeitlicher Artefakte, die ich in Kaschmir und den Fußhügeln des Himalaja im Jahre 1932 gemacht hatte. Unansehlich wie sie waren, deuteten sie jedenfalls auf Spuren des Frühmenschen in einer Gegend hin, die den Fachleuten bekannt ist wegen ihres Fossilreichtums, worunter sich auch Reste von Menschenaffen befinden. Mit diesen ersten frühmenschlichen Spuren im nordwestlichen Indien war eine geologische Konstellation gegeben, die plötzlich große Aussichten für die Klärung menschlicher Vorgeschichte in Asien eröffnete.
Ibid, S.18
Orelie: Was wollte Teilhard bei diesen Forschungsreisen in die Vorgeschichte der Menschheit ergründen?
Helmut de Terra: Wir glaubten uns für Augenblicke in jene fernen Epochen zurückversetzt, als der jugendliche Himalaja tropische Wälder trug, in denen die dem Menschen stammverwandten Primaten Jahrmillionen lang jenem Ereignis entgegensteuerten, welches Teilhard als das wichtigste Ergebnis organischer Entwicklung ansah: die Geburt des Bewusstseins.
Ibid, S.30
Orelie: Und auf welche Weise ist Teilhard der Entwicklung eines Ichbewusstseins auf die Spur gekommen?
Helmut de Terra: Indem sich die Entwicklung des Schädels auf die menschliche Form zubewegte, kam es am Ausgang der Tertiärzeit zu eigenartigen Übergangsformen, die sich zwar durch ein menschenähnliches Gebiss und sogar durch aufrechten Gang auszeichneten, aber ihrer Schädelform nach zu schließen nicht als wirkliche Menschen zu bezeichnen sind. In Indien, wie anderswo, dominierte zur Pliozänzeit eine Vielfalt von Landsäugetieren, so dass man tatsächlich, wie Teilhard meinte, das Herdfeuer eines bewussten Wesens vermisst, so modern erscheint uns diese Tiergesellschaft im Vergleich zu den Reptilien und Amphibien der vorhergehenden Zeitalter. Eine moderne Welt ohne Ichbewusstsein, ohne den trauten Rauch von Lagerfeuern, ohne Werkzeuge und Höhlenkunst! Innerhalb dieses Gewimmels von Huftieren und Raubtieren aller Art bildete sich das verfeinerte Nervensystem der höheren Primaten, aus deren Mitte jederzeit das Ichbewusstsein hätte erscheinen können.
Ibid., S.41
Orelie: Teilhard sah im Ursprung des Menschen „ein monophyletisches Ereignis”. Können Sie das erklären?
Helmut de Terra: Da in der Anthropoidengruppe die Gehirnausbildung im Rahmen der Säugetierentwicklung auf die Geburt des Bewusstseins zusteuerte, hat Teilhard, im Einklang mit anderen Fachwissenschaftlern dieses Ereignis als monophyletisch, das heißt aus einem einzelnen Stamm hervorgegangen, angesehen. Zu einer monogenetischen Abstammung des Menschen, im Darwinschen Sinne aus einem Paar hervorgegangen, konnte sich Teilhard deshalb nicht bekennen, weil wenig Aussicht besteht, hierfür wissenschaftliche Beweise zu erhalten. Er meinte, es sollte uns genügen, dass der Mensch in der Achse der Totalanstrengung des Lebens liegt, dass er innerhalb des gesamten Lebens eine einzigartige und äußerste Manifestation psychischer Energien vorstellt. Gegenüber allen anderen Ergebnissen der Evolution ragt das menschliche Denkvermögen als ein so phänomenales Produkt hervor, dass man von einer Suche nach seinem eigentlichen Ansatzpunkt absehen könnte, so faszinierend dieses Problem auch für die Wissenschaft ist.
Ibid., S.41-42
Orelie: Herr Helmut de Terra, Sie sprechen bei Teilhard „von einer deterministischen Deutung der Herkunft des Menschen”. Können Sie das konkretisieren?
Helmut de Terra: Jede Mutation ist zwar einmalig, aber im Teilhardschen Sinn der menschlichen Abstammung erscheint sie als Erfüllung einer ganz bestimmten Tendenz der organischen Entwicklung, die der Herausbildung des Ich-Bewusstseins zustrebt. In diesem Sinne ist Mutation als ein Sprung schöpferischer Entwicklung anzusehen, dem gewissermaßen ein „Quantumsprung” von Lebensenergien innerhalb der Primatengruppe zu Grunde liegt. Diese deterministische Deutung der Herkunft des Menschen erklärt auch, wieso Teilhard den Umweltfaktoren so geringe Beachtung schenkte. Wie hätte eine von innen geleitete Evolution durch Klimaänderungen und dadurch entstandenen Diätwechsel der Primaten beeinflusst werden können? In Analogie mit Teilhards Auffassung von der Metamorphose im Neolithikum bleiben die ökologischen Faktoren unberücksichtigt. Man mag nun einwenden, dass wir über solche Umwelteinflüsse der Anthropoiden nichts wissen, doch sollte das keinen Forscher abhalten, sie in Betracht zu ziehen.
Ibid., S.42
Orelie: Kommen wir auf die heutige Zeit zu sprechen, wobei Teilhard der Technik einen bedeutenden Platz einräumt.
Helmut de Terra: Wenn nun die Technik der Gegenwart den Weg zu einem planetarischen Bewusstsein vorbereitet, so wie in früheren Epochen künstliche Bodenbewässerung oder Metallegierungen den soziopolitischen Organisationen Vorschub leisteten, so darf man hierin einen Beweis für jene besondere Art von Evolution sehen, die das Wachstum des Bewusstseins ausmacht. Der Mensch ist demnach nicht Endprodukt einer ungeheuer langen organischen Entwicklung, sondern ihr neues Medium. Sobald die Technik raumüberwindend wurde, brach das Zeitalter neuer Erkenntnisse und Planungen an, unser Zeitalter der ersten Versuche weltweiter Organisationen, die auf intensiveren wirtschaftlichen und kulturellen Austausch hinstreben. Wir sind in einem experimentellen Stadium und können es uns nicht leisten, mit kleingläubigen Zweifeln unsere Energien zu schwächen, sondern müssen, wie Teilhard, die Gegenwart in großer Perspektive sehen, in einem durch sorgfältige Forschungen unterbauten Glauben.
Ibid., S.57
Orelie: Pierre Teilhard de Chardin war ein gläubiger Christ und versuchte in seinen Büchern Der Mensch im Kosmos oder Das göttliche Milieu seine wissenschaftlichen Forschungen mit seinem Glauben zu vereinen. Können Sie abschließend hierzu etwas sagen?
Helmut de Terra: Wie hätte eine das Universum umfassende Betrachtung auf Grund der beiden Teilhard’schen Hypothesen von der überragenden Bedeutung des Menschen in der Natur und seinem organisch bedingten Geschick auf rein rationaler Basis vorgenommen werden können ohne Bezugnahme auf jenen Glauben, für den er auch als Mitglied eines angesehenen geistlichen Ordens eintrat? Von Teilhard, dem gläubig Forschenden, konnte man von vornherein eine Qualifizierung seines Begriffes der Wissenschaft erwarten. Er tat es auf seine Weise, indem er Sehen und Schauen als Medien zu einem tieferen Verständnis des menschlichen Wesens empfahl. Sein neuer Begriff vom Menschen sollte zu der Erkenntnis führen, „dass er nicht einsam in den Einöden des Weltalls verloren ist, sondern dass ein universeller Lebenswille ihm zuströmt und sich in ihm vermenschlicht.” (Der Mensch im Kosmos, S.9)
Ibid., S.114