Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Willy Brandt – Konrad Adenauer

Orelie: Guten Tag, Herr Willy Brandt. Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem wir über Konrad Adenauer, den ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland sprechen werden. Sie selbst waren von 1969 bis 1974 der erste sozialdemokratische Bundeskanzler und erhielten 1972 den Friedensnobelpreis. Kommen wir zu Konrad Adenauer, der am 5. Januar 1876 geboren wurde. Sie kamen am 18. Dezember 1913 auf die Welt, also weit über eine Generation später. Was wollen Sie hierzu bemerken?

Willy Brandt: Adenauer und mich trennte nicht nur der Unterschied der Generationen; er war schon jahrelang Oberbürgermeister von Köln, als ich in Lübeck zur Schule kam. Auch die Herkunft hatte uns in mindestens dreifacher Hinsicht unterschiedlich geprägt. Er, aus kleinbürgerlicher Familie kommend, ins Großbürgertum hineingewachsen, von tief konservativer Grundüberzeugung, nicht ohne liberale Zutaten. Fest im Katholizismus wurzelnd, wenngleich nicht klerikal. Vom Reich des Bösen im Kampf mit dem Reich Gottes hat man ihn nicht reden hören, und als er sich bei Johannes XXIII. einen „Auftrag des deutschen Volkes” bestätigen lassen wollte, erteilte ihm der Papst eine Abfuhr. Auf den Weltkommunismus oder das, was er dafür hielt, war er auch ohne höheren Auftrag fixiert und wusste davon Gebrauch zu machen. Ich, von ganz unten kommend in die Arbeiterbewegung hineingewachsen, demokratischer Sozialist und sozialer Demokrat. Durch den lutherischen Protestantismus vielfach beeinflusst, wenn auch mit wachsender Neigung zum Agnostizismus.”

Willy Brandt, Erinnerungen, Ullstein Verlag, München, November 2003, S.37

Orelie: Wie ging Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler nach dem Krieg mit der Nazi-Diktatur um?

Willy Brandt: Er hatte mit den Nazis ebenso wenig im Sinn wie ich. Er redete ihnen nicht nach dem Mund, und sie behandelten ihn nicht gut. Von einem radikalen Bruch mit den Nazi-Jahren mochte er sich allerdings nichts versprechen. Er war für ein hohes Maß an Kontinuität, Restauration und Schwamm drüber. Dazu gehörte, die Weimarer Parteiensplitterung zu überwinden und ein breites Parteilager zu etablieren, das vom alten Zentrum und von einem Teil der Deutschdemokraten bis zu den Deutschnationalen reichte. Die Bürokraten, die – im weiteren Sinn des Wortes – dem braunen Regime gedient hatten, an sich zu binden barg, zusätzlich zu formaler Sachkunde, den Vorteil, ihrer Dankbarkeit gewiss zu sein. Er wich der Schuldfrage weitgehend aus und nahm manchem das schlechte Gewissen. Anders gewendet, er setzte auf Zeitgewinn und trug, mit einem Schuss Opportunismus, dazu bei, dass die Deutschen nicht heillos zerbrachen – im Streit über jenen moralischen Absturz, den sie gerade überlebt hatten.

Ibid, S.38

Orelie: Und wie verlief die Entnazifizierung im großen und ganzen?

Willy Brandt: Während auf der unteren Ebene Briefträger und Amtsgehilfen in großem Stil entbräunt wurden, begann in den höheren Etagen eine umfängliche Wiederbesetzung neuer Stellen mit altem Personal: Ministerialbürokraten, Richter, Polizeiführer, Hochschullehrer, kaum mit dem Schrecken davongekommen, entzogen sich jeder ernsten Auseinandersetzung mit einem Regime, das ohne sie nicht hätte existieren können. Nicht die Untüchtigsten gingen in die Wirtschaft. Die Alliierten mussten belastete Offiziere rehabilitieren, als sie neue deutsche Divisionen wollten. Ein besonders übles Kapitel war die Übernahme von Gestapoleuten und ähnlichen Terroristen in die Nachrichtendienste der Siegermächte.

Ibid., S.39

Orelie: Konrad Adenauers Gegenspieler und Parteivorsitzender der SPD war Kurt Schumacher, der am 13. Oktober 1895 geboren wurde. Was wollen Sie, Herr Brandt, zu ihm sagen?

Willy Brandt: Der große Gegenspieler in der Zeit der bundesrepublikanischen Staatswerdung, Kurt Schumacher, stand Adenauer an Willensstärke und Antikommunismus nicht nach. Doch in seiner Art, sich zu geben, der Militanz, die in Fanatismus umschlagen konnte, unterschied er sich durch und durch. Redegewaltig, wie er war, stieg Schumacher zu einer nationalen Figur auf, als von Adenauer über Köln und das Rheinland hinaus noch kaum die Rede war. Doch der Vorsprung war nur zeitlicher Natur. Sein Drang, Gerechtigkeit durch radikale soziale Veränderungen zu bewirken, stand dem Ruhebedürfnis der Menschen ebenso entgegen wie sein aggressives Streben nach nationaler Einheit. Kurt Schumacher hat nur die ersten drei Jahre der Bundesrepublik erlebt, 1952 trug der kranke Körper den kämpferischen Geist nicht mehr. Sein Erbe an die Sozialdemokratie reichte weit.

Ibid.

Orelie: Herr Willy Brandt, Sie wurden am 3. Oktober 1957 Regierender Bürgermeister von Berlin. Hatte das positive Auswirkungen auf Ihre Beziehung zu Konrad Adenauer?

Willy Brandt: Eine gewisse Nähe ergab sich aus dem Verhältnis von Bürgermeister zu Bürgermeister, zumal er großes Verständnis für die Notwendigkeiten der Stadtkasse hatte und mir – gegen den Finanzminister – mehrfach half, das Geld einzutreiben, das Berlin brauchte.

Ibid., S.41

Orelie: Kommen wir auf Konrad Adenauers europäische Gesinnung zu sprechen. Was wollen Sie zu dieser sagen?

Willy Brandt: Dass er Westeuropa schaffen helfen wollte, daran ist kein Zweifel. Wenn auch sein Bild von jenem Westeuropa enger blieb als das seines Altmännerfreundes Charles de Gaulle. Der holte historisch weiter aus, zurück und nach vorn, und hatte einen ausgeprägten Sinn für die tief nach Osten reichende europäische Dimension.

Ibid., S.44-45

Orelie: Allerdings waren sich die beiden, was Großbritannien und Europa betraf, zum großen Teil einig.

Willy Brandt: Frankreich zog ihn an, weil es rheinisches Gefühl und karolingische Tradition geboten und weil er nüchtern kalkulierte, dass in Westeuropa nur gut gehen könne, was von Deutschen und Franzosen getragen würde. In der Distanz Großbritannien gegenüber traf er sich mit de Gaulle, der den Engländern grollte, der ihnen die Geringschätzung während seines Londoner Kriegsexils verübelte und im übrigen dem britisch-amerikanischen Sonderverhältnis misstraute. 1962 habe ich Adenauer beschworen, er möge sich einen Ruck geben und de Gaulle dafür gewinnen, dass Großbritannien die Tür zur EWG geöffnet und eine zusätzliche Spaltung Europas vermieden werde. Er war nicht zu bewegen: Was zähle, seien Frankreich und Deutschland.

Ibid., S.46

Orelie: Kommen wir auf Konrad Adenauers Verhältnis zu den USA und zur NATO zu sprechen.

Willy Brandt: Es ist aktenkundig, dass er sich den Alliierten als unentbehrlich angepriesen hat; auf einen Nachfolger würden sie sich nicht verlassen können. Als die Bundesrepublik Mitglied der NATO geworden war, hörte ich ihn sagen, nun säßen wir im stärksten Bündnis der Geschichte. Die Amerikaner in Deutschland zu wissen war und blieb ihm Anfang und Ende seiner Politik.”

Ibid., S.45 und 47

Orelie: Und wie sah er die Beziehungen zur DDR?

Willy Brandt: Im Oktober 1962 erklärte der Kanzler vor dem Bundestag, die Regierung sei bereit, über vieles mit sich reden zu lassen, wenn „unsere Brüder in der Zone” ihr Leben so einrichten könnten, wie sie es wollten – „Überlegungen der Menschlichkeit spielen hier für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen”. Dies war ein deutlicher Brückenschlag zu meiner Argumentation, besonders seit Errichtung der Mauer.

Ibid., S.48

Orelie: Herr Brandt, wie waren Ihre Beziehungen zu Konrad Adenauer, nachdem er im Herbst 1963 als Bundeskanzler zurückgetreten war?”

Willy Brandt: Adenauer und ich verloren uns nicht aus den Augen. Immerhin blieb er – bis März 1966 – Parteivorsitzender; ich war es Anfang 1964 geworden. Auch später noch hat es das eine und andere Gespräch gegeben, und ich war unter den Gästen, die seinen 90. Geburtstag – im Januar 1966 – in der Godesberger Redoute feierten.”

Ibid., S.42-43

Orelie: Herr Willy Brandt, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.