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Interview: Joseph Roth – Die Legende vom heiligen Trinker

Orelie: Guten Tag, Herr Joseph Roth. Sie sind ein österreichischer Schriftsteller und Journalist. Sie arbeiteten in den zwanziger Jahren als Journalist bei verschiedenen deutschen Zeitungen. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 waren Sie als Jude in Deutschland Ihres Lebens nicht mehr sicher und gingen ins Exil nach Frankreich. Wir werden in unserem Gespräch über Ihre Novelle Die Legende vom heiligen Trinker sprechen. Sie selbst sind seit langem vom Alkohol abhängig und wohnen in einem baufälligen Hotel in Paris. Die Hauptperson in Ihrer Novelle, die Andreas heißt, ist obdachlos. Doch lebt Andreas ebenfalls in Paris. Können Sie hierzu etwas sagen?

Josef Roth: Es war bereits Abend, und unter den Brücken, an den Ufern des Flusses, dunkelte es stärker als oben, auf dem Kai und auf den Brücken. Der obdachlose und sichtlich verwahrloste Mann schwankte ein wenig. Es war inzwischen unten finster geworden, indes oben, auf den Brücken und an den Kais, sich die silbernen Laternen entzündeten, um die fröhliche Nacht von Paris zu verkünden.

Josef Roth, Die Legende vom heiligen Trinker, in: Gesammelte Erzählungen, Ideenbrücke, 2016, Kindle, Amazon, S.150

Orelie: Andreas hat ein Erlebnis, das ihn sehr nachdenklich macht. Ein gut gekleideter Mann schenkt ihm nämlich 200 Francs und gibt zu verstehen, ein Christ geworden zu sein. Andreas sagt, dass er ein ehrbarer Mann ist und das Geld zurückzahlen möchte. Daraufhin antwortet ihm der Fremde, es der heiligen Therese in der Kapelle Ste Marie des Batignolles zu spenden. Andreas kommt sich nun wie verwandelt vor. In einem bürgerlichen Lokal trinkt er einen Kaffee mit Ruhm und macht die Bekanntschaft eines Manns, der ihn zwei Tage für den Umzug seiner Familie anstellt und ihm im voraus 100 Francs gibt. Was tut Andreas daraufhin?

Joseph Roth: Nun, da er Geld besaß und noch die Aussicht hatte, mehr zu verdienen, beschloss er, sich ebenfalls eine Brieftasche anzuschaffen. Zu diesem Zweck begab er sich auf die Suche nach einem Lederwaren-Laden. In dem ersten stand eine junge Verkäuferin. Sie erschien ihm sehr hübsch. Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf seine schlechte Kleidung. Um überflüssige Fragen zu ersparen, stieg sie sofort eine Leiter hinauf und holte eine Schachtel aus der höchsten Etagere. Dort lagerten nämlich die Brieftaschen, die Kunden zurückgebracht hatten, um sie gegen andere einzutauschen. Hierbei sah Andreas, dass dieses Mädchen sehr schöne Beine hatte, und er erinnerte sich jener halbvergessenen Zeiten, in denen er selbst solche Waden gestreichelt, solche Füße geküsst hatte. Er wählte eine Brieftasche, ohne sie näher anzusehen. Ohne Sinn erschien ihm plötzlich die Brieftasche. Hingegen beschäftigte er sich mit der Leiter, mit den Beinen, mit den Füßen des Mädchens. Deshalb ging er in die Richtung des Montmartre, jene Stätten zu suchen, an denen er früher Lust genossen hatte. In einem steilen und engen Gässchen fand er auch die Taverne mit den Mädchen. Er setzte sich mit mehreren an einen Tisch, bezahlte eine Runde und wählte eines von den Mädchen. Am nächsten Morgen ging er zu der Arbeit. Andreas arbeitete den ganzen Tag. Als er fertig war, sagte die Frau des Hauses zu ihm: „Kommen Sie morgen pünktlich, um sieben Uhr früh.” So kam er am nächsten Morgen, früher noch als die Möbelpacker. Nun machte sich Andreas an die Arbeit. Und er begleitete noch die Frau in das neue Haus, in das sie übersiedelten, und wartete, bis der freundliche, dicke Mann kam, und der bezahlte ihm den versprochenen Lohn.”

Ibid, S.152, 153

Orelie: Andreas will nun einen Teil seiner Schulden der heiligen Therese zurückzahlen. Doch kommt er zu spät zu der Messe und bis die nächste beginnt, hat er noch eine Stunde Zeit, weshalb er in ein Bistro einkehrt. Dort trinkt er mehrere Pernods. Als er die Kneipe verlässt und die Kapelle erblickt, wird ihm sein Versprechen wieder bewusst. Doch was geschieht?

Joseph Roth: „Andreas!” – rief eine Stimme, eine Frauenstimme. Sie kam aus verschütteten Zeiten. Es war Karoline. „Komm, wir wollen uns aussprechen”, sagte sie. „Aber,aber”, erwiderte er, ich bin verabredet. Mit der kleinen Therese.” „Sie hat nichts zu bedeuten” – sagte Karoline. In diesem Augenblick fuhr ein Taxi vorbei, und Karoline hielt es mit ihrem Regenschirm auf. Ehe sich es noch Andreas versehen hatte, saß er drinnen im Wagen neben Karoline. Jetzt kamen sie in eine Gegend außerhalb der Stadt; lichtgrün, vorfrühlingsgrün war die Landschaft, in der sie hielten. Und sie gingen ins Restaurant. Wie er den letzten Schluck Wein aus seinem Glas getrunken hatte, überfiel ihn aufs neue jener plötzliche Schrecken, den er vor langen Jahren, während der Zeit seines Zusammenlebens mit Karoline, so oft gefühlt hatte. Und er wollte ihr wieder einmal entfliehen.”

Ibid., S.153, 154

Orelie: Aber Andreas schafft es nicht, sondern gibt viel Geld für einen Kinobesuch aus. Anschließend trinkt er in einem Tanzlokal allein mehrere Pernods, während Karoline mit anderen Männern tanzt. Als es ihm zu viel wird, zieht er Karoline von ihrem Tänzer weg, zahlt und die beiden gehen zu ihr nach Hause. Was geschieht am nächsten Morgen?

Joseph Roth: Er beschloss, sofort aufzustehen, ohne Karoline zu wecken, und ebenso zufällig, oder besser gesagt, schicksalshaft wegzugehen, so wie sie beide, Karoline und er, gestern zusammengekommen waren.

Ibid., S.155

Orelie: Andreas, der nun kaum noch Geld hat, sagt sich, dass es mit den ihm widerfahrenen Wundern vorbei ist, verbringt seine Zeit in Kneipen und schläft unter einer Seinebrücke ein. Dort hat er einen Traum.

Joseph Roth: In jener Nacht nämlich träumte ihm, dass die kleine Therese in der Gestalt eines blondgelockten Mädchens zu ihm käme und ihm sagte: „Warum bist du letzten Sonntag nicht bei mir gewesen?”

Ibid., S.156

Orelie: Dieser Traum gibt ihm wieder Mut und noch dazu findet er in der vor einigen Tagen gekauften Brieftasche einen tausend Francs Schein, den er sogleich wechselt. Was tut er daraufhin?

Joseph Roth: Hierauf blieb Andreas ein wenig an der Theke stehen und trank drei Gläser Weißwein; gewissermaßen aus Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal.

Ibid., S.157

Orelie: Und in der Tat kann er froh über dieses sein, denn ein früherer Schulfreund, der ein bekannter Fußballer geworden ist, bezahlt ihm neue Kleidung und einen Aufenthalt in einem Hotel. Dort begegnet er einem schönen Mädchen, mit dem zusammen er sehr viel Geld ausgibt. Was passiert am nächsten Morgen?

Joseph Roth: Am nächsten Morgen, es war Sonntag, erwachte Andreas in dem Bewusstsein seiner Pflicht, dass er das Geld zurückzahlen müsse. „Ich muss eine Schuld bezahlen”, sagte Andreas. „Wie? Heute am Sonntag?” – fragte das schöne Mädchen. „Ja, heute am Sonntag” – erwiderte Andreas. „Ist es eine Frau oder ein Mann, dem du Geld schuldig bist?” „Eine Frau” – sagte Andreas zögernd. „Wie heißt sie?” „Therese?” Daraufhin sprang das schöne Mädchen aus dem Bett, ballte die Fäuste und schlug sie auch beide Andreas ins Gesicht. Und daraufhin floh er aus dem Zimmer, und er verließ das Hotel.

Ibid, S.161

Orelie: Noch dazu muss er, als er in seine Brieftasche schaut, feststellen, dass das schöne Mädchen ihn bestohlen hat, denn von dem vielen Geld sind nur noch 250 Francs vorhanden. Doch will er endlich zu der heiligen Therese gehen. Da er noch Zeit hat, stattet er einem Bistro in der Nähe der Kapelle einen Besuch ab. Nachdem die Glocken zu läuten beginnen, will er zur Messe gehen. Doch er trifft auf Woitech, mit dem zusammen er in demselben Bergwerk gearbeitet hat. Woitech, der bemerkt, dass Andreas Geld hat, hält diesen davon ab, seine Schulden bei der Heiligen zu bezahlen. Stattdessen geben die beiden drei Tage lang viel von dem Geld fürs Trinken und in einem Freudenhaus aus. Wie erscheint Andreas daraufhin sein Leben?”

Joseph Roth: Es schien ihm, dass sein Freund verlorengegangen war im Regen, genauso, wie er ihn zufällig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in der Tasche besaß, ausgenommen fünfunddreißig Francs, und er verwöhnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die ihm gewiss noch geschehen würden, beschloss er, wie alle Armen und des Trunkes Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, dem einzigen, an den er glaubte. Also ging er zur Seine und die gewohnte Treppe hinunter, die zu der Heimatstätte der Obdachlosen führt.

Ibid, S.162

Orelie: Beim Hinabsteigen der Treppe begegnet Andreas wieder dem gut gekleideten Mann, der ihm die 200 Francs geschenkt hat, die Andreas der heiligen Therese zurückzahlen will. Doch will der Mann sich nicht zu erkennen geben. Aber Andreas erhält noch einmal 200 Francs von ihm. Doch hat er bis Sonntag noch Zeit und so geht er in ein Restaurant, in dem auch Obdachlose essen, trinken und schlafen können. Dort muss Andreas dem Wirt seine angehäuften Schulden bezahlen und danach hat er nicht mehr genug Geld für die Heilige. Aber wieder geschieht etwas Außergewöhnliches. Ein Polizist hält ihn an und gibt ihm eine Brieftasche, weil er meint, dass Andreas sie verloren hat. Danach stößt Andreas auf Woitech und die beiden kehren in einer Kneipe ein. Dort schaut Andreas in die Brieftasche, in der er zwischen allerlei Papieren auch 200 Francs findet, die er sofort zu der heiligen Therese bringen will. Aber Woitech hält ihn davon ab und sagt, dass die Messe noch nicht zu Ende ist und die beiden sich etwas zu trinken bestellen sollen. Was ereignet sich nun?

Joseph Roth: In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und während Andreas ein unheimliches Herzweh verspürte und eine große Schwäche im Kopf, sah er, dass ein junges Mädchen hereinkam. Andreas fragte: „Wie heißen Sie?” „Therese” – sagte sie. „Ah”, rief Andreas darauf, „das ist reizend! Ich habe nicht gedacht, dass eine so große, eine so kleine Heilige mir die Ehre erweist, mich aufzusuchen.” „Ich verstehe nicht, was Sie reden” – sagte das kleine Fräulein ziemlich verwirrt. „Das ist nur Ihre Feinheit”, erwiderte hier Andreas. Aber ich weiß sie zu schätzen. Ich bin Ihnen seit langem zweihundert Francs schuldig, und ich bin nicht mehr dazu gekommen, sie Ihnen zurückzugeben, heiliges Fräulein!” „Sie sind mir kein Geld schuldig, aber ich habe welches im Täschchen.” Und somit gab sie ihm einen Hundert-Francs-Schein.

Ibid., S.164

Orelie: Woitech sieht dies und geht auf Andreas zu, um ihn zur Theke zu bringen. Aber hierzu kommt es nicht mehr, denn Andreas fällt plötzlich um und wird in die Sakristei der Kapelle gebracht, wohin ihm auch das Mädchen Therese, dessen Eltern gerade die heilige Messe besuchen, folgt. Was geschieht in der Sakristei?”

Joseph Roth: Man bringt also unsern armen Andreas in die Sakristei, und er kann leider nichts mehr reden, er macht nur eine Bewegung, als wollte er in die linke innere Rocktasche greifen, wo das Geld, das er der kleinen Gläubigerin schuldig ist, liegt, und er sagt: „Fräulein Therese!” – und tut seinen letzten Seufzer und stirbt.

Ibid., S.165

Orelie: Welchen Wunsch sprechen Sie am Ende Ihrer Novelle aus?”

Joseph Roth: Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!

Ibid., S.165

Orelie: Herr Joseph Roth, ich danke Ihnen für dieses Gespräch