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Interview: Herbert Vorgrimler – Karl Rahner verstehen

Orelie: Guten Tag, Herr Herbert Vorgrimler. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir von dem Theologen Karl Rahner sprechen wollen. Sie waren sein Schüler und bis zu seinem Tod in aufrichtiger Freundschaft mit ihm verbunden. So sind sie mit seinem Leben und seinem theologischen Werk gut vertraut. Karl Rahner wurde am 5. März 1904 in Freiburg im Breisgau geboren. Was können Sie über seine Kindheit und Jugendzeit berichten.

Herbert Vorgrimler: Über die Lebensumstände in seiner Kindheit und Jugendzeit kommt am besten er selber zu Wort: „Ich wuchs in einer normalen, mittelständischen, christlichen Familie auf. Mein Vater war – heute sagt man Studienrat. Die Beamtengehälter der damaligen Zeit waren sehr bescheiden. Meine Mutter nahm noch Jungen aus anderen Familien in unsere Familie auf, um auf diese Weise noch etwas hinzuzuverdienen. Mein Vater musste Nachhilfestunden geben, damit schließlich und endlich sieben Kinder leben konnten, die auf die Höheren Schulen gingen.” Karl Rahner bezeichnete einmal das Milieu, in dem er aufwuchs als „heile Welt”, trotz der materiellen Sorgen, von denen eben die Rede war. Er hing sein ganzes Leben hindurch mit großer Liebe an seiner Mutter. Im Alter erzählte er von seiner Mutter: „Meine Mutter war trotz aller Initiative eine eher depressiv-ängstliche und entsetzlich gewissenhafte Frau. Sie hat das Leben mehr von der schweren, schwermütigen Pflichtseite empfunden. Insofern hat sie auch meinen Lebensweg eher ängstlich begleitet, etwa, dass ich nicht hochmütig werde.”

Herbert Vorgrimler, Karl Rahner verstehen – Eine Einführung in sein Leben und Denken, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 1985, S.64-66

Orelie: Nach seinem Abitur im Jahr 1922 trat Karl Rahner in den Jesuitenorden im österreichischen Feldkirch in Vorarlberg ein. Er studierte Philosophie zuerst in Feldkirch und ab dem Jahr 1925 in Pullach bei München. 1929 begann Karl Rahner Theologie an der Theologischen Fakultät der Ordenshochschule in Valkenburg in Holland zu studieren. Am 26. Juli 1932 wurde Karl Rahner in der Münchner St. Michael Kirche zum Priester geweiht. Ab dem Jahr 1934 führte er sein Philosophiestudium in Freiburg weiter. Dort besuchte er auch Seminare von Martin Heidegger. Können Sie etwas über die Beziehung Karl Rahners zu diesem Philosophen sagen?

Herbert Vorgrimler:Bedeutsam war Heidegger für Rahner deswegen: „Er lehrte, Texte neu zu lesen, Texte zu hinterfragen, Verbindungslinien zwischen den einzelnen Texten, Aussagen eines Philosophen zu sehen. In der Art des Denkens, in der Art des Mutes, manches traditionell Selbstverständliche noch einmal zu hinterfragen, in der Bemühung, in die heutige christliche Theologie auch moderne Philosophie einzubeziehen, da habe ich von Heidegger schon einiges gelernt und werde ihm also auch immer dankbar bleiben.” In diesem Sinne, aber auch in diesen Grenzen kann man Karl Rahner einen Heideggerschüler nennen. Die Wertschätzung war dennoch gegenseitig. Ende der 50er Jahre stattete der nicht gerade häufig reisende Heidegger Karl Rahner einen Besuch in Innsbruck ab, und in einem Brief vom 24.2.1973 schrieb mir Heidegger unter anderem: „Ich habe die Mitarbeit von P. Rahner während der Jahre 1934/1936 bei den Seminaren in der schönsten Erinnerung.”

Ibid, S.79

Orelie: Kommen wir nun auf die Theologie Karl Rahners zu sprechen, in der er Gott das unbegreifliche Geheimnis nennt. Können Sie hierzu aus seinen Schriften zitieren, um das verständlicher zu machen?

Herbert Vorgrimler: Wer eine Annäherung an die Theologie Karl Rahners sucht, der sollte nicht übersehen, dass diese Theologie eine ganz persönliche Basis besitzt, die Erfahrung Gottes selber: „Ich habe Gott unmittelbar erfahren. Gott selbst habe ich erfahren, nicht menschliche Worte über ihn. Diese Erfahrung ist niemandem verwehrt. So, wenn man plötzlich unerbittlich sich seiner Freiheit und Verantwortung überantwortet erfährt, ihr als einer und ganzer, die das ganze Leben umgreift, keine Ausflucht mehr zulässt, keine Entschuldigung, dort, wo kein Beifall mehr unterstützt, keine Anerkennung und Dank mehr erhofft werden kann, wo man eben vor der schweigenden, unendlichen, von uns nicht manipulierten Verantwortung steht, die ist und uns nicht untertan ist, das Innerste und Unterschiedenste von uns. Wenn man erfährt, wie sie sich gleichsam schweigend ausbreitet durch das ganze Dasein, alles durchdringt, alles eint, selber unbegreiflich.” Im Leben eines Menschen gibt es, wie Rahner sagt, tausend solcher Erfahrungen – ihnen allen liegt das eine Urerlebnis zugrunde: dass der Mensch mehr ist als nur die Summe von chemischen Elementen und Prozessen, dass Menschenleben an ein unbegreifliches Geheimnis rührt, ja immerfort dort hineinzufließen beginnt.

Ibid., S.22-25

Orelie: Im Jahr 1936 promovierte Karl Rahner in Theologie an der Universität in Innsbruck und ein Jahr später habilitierte er sich. Daraufhin wurde er Dozent für Dogmatik. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 wurde die Theologische Fakultät der Universität Innsbruck am 20. Juli desselben Jahrs geschlossen. Im Oktober 1939 wurde das Jesuitenkollegium in Innsbruck verboten. Wie erlebte Karl Rahner das Verbot?

Herbert Vorgrimler: Karl Rahner wurde aus Tirol ausgewiesen. Der Wiener Prälat Karl Rudolf, ein Vertrauensmann des damaligen Wiener Kardinals Innitzer, bot ihm Unterschlupf in Wien und nahm ihn dort in die Diözesanverwaltung und in das Seelsorgeinstitut auf.”

Ibid., S.89

Orelie: Nach dem Krieg unterrichtete Karl Rahner an der wieder eröffneten theologischen Fakultät in Innsbruck. Am 11. Oktober 1962 wurde das Zweite Vatikanische Konzil von Papst Johannes XXIII. eröffnet und am 8. Dezember 1965 von Papst Paul VI. beendet. Am 7. Juni 1962 war Karl Rahner von seinem Ordensoberen informiert worden, dass das Heilige Offizium ihn mit einer Vorzensur belegt hatte und von nun an alles von ihm Geschriebene oder Gesprochene der römischen Zensur unterlag. Wie war es möglich, dass diese Zensur aufgehoben wurde und Karl Rahner entscheidend an dem Konzil mitwirken konnte?

Herbert Vorgrimler: Ende Juni beschlossen die Kardinäle Döpfner, König und Frings eine schriftliche Eingabe an den Papst um Aufhebung dieser Vorzensur zu machen. Die Sache konnte nicht geheim bleiben. Als sogar über den Rundfunk verbreitet wurde, Rahner habe ein Schreib- und Redeverbot, startete Dr. E. Keller von der Paulus-Gesellschaft eine Unterschriftenaktion unter den Mitgliedern und Interessenten der Gesellschaft. Er brachte etwa 250 Unterschriften, darunter Universitätslehrer aus dem Bereich der Naturwissenschaften, zusammen. Der Mediziner Prof. Paul Martini, Arzt des Bundeskanzlers K. Adenauer, informierte diesen über die Aktion und gewann ihn dazu, dass die Bittschrift auf diplomatischem Weg und mit Adenauers eigener zustimmender Stellungnahme dem Papst übergeben wurde. Immerhin ernannte Johannes XXIII. Rahner im Oktober 1962 zum Konzilstheologen (Peritus), und der Präfekt des Heiligen Offiziums, Kardinal A. Ottaviani , erhob keine Einwände, als Kardinal König Rahner zu Kommissionssitzungen mitnahm. Von da ab hatte Rahner keine solchen und ähnlichen Schwierigkeiten mehr.

Ibid., S.115-116

Orelie: Noch während der Konzilszeit erhielt Karl Rahner die Berufung, an der Fakultät in München als Nachfolger Romano Guardinis Religionsphilosophie zu unterrichten. Rahner und seine Ordensoberen willigten ein und er begann im Sommersemester 1964 mit seinen Vorlesungen. Er schätzte Guardini sehr, aber hatte im Gegensatz zu ihm in seinen Seminaren und Vorlesungen eine andere Vortragsweise. Im Frühjahr 1967 verließ er München und ging nach Münster, wo er an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster zum Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte ernannt wurde. Was wollen Sie zu diesem Geschehen sagen?”

Herbert Vorgrimler: Immer zählte er Guardini zu den großen Erneuerern der Theologie. Weniger angetan war er vom Vorlesungsstil Guardinis, der ihm zu esoterisch, zu ästhetisch-edel, zu wenig präzise vorkam. Er hatte den Wunsch, Schüler in Theologie – nicht nur in Philosophie – promovieren zu können; er war und blieb ja Theologe. Aber die Münchner Theologische Fakultät schlug ihm seinen Wunsch ab. Als ihn während des Dekanats von J. B. Metz der Ruf aus Münster erreichte, nahm er ihn an.”

Ibid., S.128-130

Orelie: Wie verlief Karl Rahners Zeit an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster?

Herbert Vorgrimler: Für Rahner begann in Münster eine im ganzen positive Zeit. Er hielt Vorlesungen über die Gnade, über Maria, über Schöpfungslehre, Christologie und Ekklesiologie und zwei Semester hindurch auch noch einmal über den „Begriff des Christentums”. Er hielt Seminare in Gesprächsform, auch mit J. B. Metz zusammen. Es war die Zeit des Studentenaufbruchs (1968). Rahner war beeindruckt von den Zielen dieser Bewegung; er verstand die jungen Leute und verweigerte sich dem Gespräch mit ihnen nicht.

Ibid., S.130

Orelie: Kommen wir nun auf die zahlreichen Ehrungen zu sprechen, die Karl Rahner zuteil wurden. Was können Sie zu diesen sagen?

Herbert Vorgrimler: Mit dem Datum des 5. März 1964, der Vollendung seines 60. Lebensjahres setzte eine Kette von Ehrungen Karl Rahners ein, die bis an sein Lebensende nicht mehr abriss. Schon 1962 bereiteten die vier ältesten Schüler Rahners (Darlap, Kern, Metz und ich) eine große Festschrift zu diesem Geburtstag vor. Als die Festschrift „Gott in Welt” erschien, standen auf der Gratulantenliste über 900 Namen aus aller Welt. Sie wurde von 14 Kardinälen und zwei Patriarchen sowie zahlreichen Bischöfen und Äbten angeführt, sie enthielt die Namen von Karl Barth, Rudolf Bultmann und anderen angesehenen evangelischen Theologen, den Namen Martin Heideggers, die der beiden Taizé-Brüder Roger Schutz und Max Thurian, den des Politikers Gustav Heinemann, die Namen zahlreicher Theologen-Kollegen Rahners sowie die vieler Natur- und Geisteswissenschaftler. Mit dem theologischen Ehrendoktor der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, den er kurz nach seinem Geburtstag erhielt, begann der Reigen von mehr als einem Dutzend Ehrendoktoraten, die ihm in seinem weiteren Leben zuteil wurden. Dem Ehrenzeichen der Landesregierung Tirol folgten Orden aller Art, darunter in der Bundesrepublik 1970 das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und der „Pour le mérite” für Wissenschaft und Künste. Bei dieser Übersicht über die Ehrungen sollen nun auch die weiteren Festschriften nicht fehlen. Eine solche Festgabe zur Vollendung seines 70. Lebensjahres, die Johann Baptist Metz und ich vorbereitet hatten, wurde wegen eines Beitrags von Heinrich Böll von den Verlagen Herder, Benziger und Kösel
abgelehnt. Bölls Beitrag ging in einer harten Sprache mit den Menschen in der Kirche, die anderen Wunden zufügen, insbesondere mit den Amtsträgern, streng ins Gericht. Die Verlage waren von Rücksichten auf ihre kirchlichen Käuferkreise bestimmt. Zur Vollendung des 75. Lebensjahres Karl Rahners besorgte ich eine Festschrift, die unter dem Titel „Wagnis Theologie” 38 Beiträge der Schüler und früheren Mitarbeiter Rahners über ihre Erfahrungen mit seiner Theologie sammelt. Elmar Klinger und Klaus Wittstadt organisierten zur Vollendung des 80. Lebensjahres Karl Rahners einen umfangreichen Band „Glaube im Prozess”. Er ist dem II. Vaticanum gewidmet und hebt in verschiedenen Beiträgen die Mitarbeit Rahners auf dem Konzil hervor.

Ibid., S.126-128

Orelie: Wir sollten auch seine Beziehung zu der evangelischen Theologie und ihren Kirchen nicht vergessen.

Herbert Vorgrimler: Karl Rahners Theologie suchte von Anfang an den ökumenischen Dialog. Versuchen wir, in Karl Rahners eigener Theologie nach dem übereinstimmenden mit der evangelischen Theologie zu fragen, dann zeigt sich in erster Linie auf dem Boden des gemeinsamen, von Paulus und Augustinus herkommende Erbes der Primat der göttlichen Gnade. Mit den Reformatoren konnte Rahner sagen: sola gratia, allein durch die Gnade. Aber es gibt auch evangelische Grundpositionen, die Rahner nicht teilen konnte und die eben seinen ehrlichen Widerspruch fanden. Dazu gehört eine Auffassung der Gnade, als begnadige Gott den Sünder nur gleichsam von außen her wie ein Gerichtsherr. Für Rahner ist Gnade die den Menschen innerlich umformende Selbstmitteilung Gottes, die bewirkt, dass ein Mensch nicht fortwährend sündigt.
Da Rahner ein Theologe sein wollte, der die kirchliche Theologie nicht in Abhängigkeit von bibelwissenschaftlichen Befunden sah, ist ihm eine gewisse evangelische Art, biblizistisch Theologie zu treiben, durch reichhaltige Rückgriffe auf Bibelworte, immer fremd geblieben.

Ibid., S.144-146

Orelie: Am 3. September 1971 wurde Karl Rahner emeritiert und verließ Münster. Er kehrte nach München zurück, wo er in dem Schriftstellerhaus der Jesuiten wohnte. Wie verlief sein Leben im Ruhestand?

Herbert Vorgrimler: Im „Ruhestand” in München, der für Rahner wie sein vorheriges Leben ein Unruhestand war, hatte Rahner außer der üblichen Vortragstätigkeit und dem unermüdlichen Schreiben eine Honorarprofessur für Grenzfragen von Theologie und Philosophie an der Hochschule der Jesuiten für Philosophie in München übernommen. Rahner hielt dort gelegentlich noch Vorlesungen ab und nahm an Seminarübungen teil. Es zog ihn immer mächtiger zurück in das Jesuitenhaus nach Innsbruck. Er legte Wert darauf, den Umzug „mit Erlaubnis der Oberen” zu tätigen; im Herbst 1981 war es soweit.

Ibid., S.163

Orelie: Karl Rahner kehrte also nach Innsbruck zurück. Am 5. März 1984 wurde er achtzig Jahre alt und es war ein Ehrentag für ihn. Was können Sie hierzu berichten?

Herbert Vorgrimler: Die Innsbrucker Jesuiten statteten ihn mit schönen Räumen auch für ein Rahner-Archiv aus, und er erhielt in Frau Elfriede Oeggl eine Mitarbeiterin, die ihn nach Kräften umsorgte und auch das unentbehrlich gewordene Auto fuhr. Am 5. März, dem Geburtstag selbst, wurde er von den Innsbrucker Jesuiten und der dortigen Theologischen Fakultät, vom Land Tirol, der Stadt Innsbruck gefeiert. Lukas Vischer vom Ökumenischen Rat der Kirchen hielt die Festrede. Ein Karl-Rahner-Preis zur Förderung des theologischen Nachwuchses wurde gestiftet.

Ibid., S. 163, 166

Orelie: Kurz darauf ging es ihm gesundheitlich nicht gut, er litt unter Atemnot und wurde am 9. März in das Sanatorium der Kreuzschwestern in Rum bei Innsbruck aufgenommen. Am 29. März kam er in die Medizinische Universitätsklinik der Stadt Innsbruck. Am 30. März 1984 starb Karl Rahner. Können Sie etwas, das er über den Tod sagte, zitieren?

Herbert Vorgrimler: In seinem Gebet zum Gott der Erkenntnis hatte Karl Rahner gesagt: „Dann wirst du einmal das letzte Wort sein, das einzige, das bleibt und das man nie vergisst. Kein Menschenwort, kein Bild und kein Begriff wird mehr zwischen mir und dir stehen, du selbst wirst das eine Jubelwort der Liebe und des Lebens sein, das alle Räume meiner Seele füllt.”

Ibid., S.

Orelie: Herr Herbert Vorgrimler, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.