Interview: Kurt Sontheimer – Hannah Arendt

Christa, 16 juin 2024

Orelie: Guten Tag, Herr Kurt Sontheimer, Ich freue mich, dass Sie meine Einladung zu diesem Gespräch angenommen haben und so wollen wir von der politischen Theoretikerin Hannah Arendt sprechen. Sie wurde am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und zog bald darauf mit ihren Eltern nach Königsberg. Ihr Vater starb, als sie erst sieben Jahre alt war. Hannah Arendt war eine ausgezeichnete Schülerin und las schon als junges Mädchen philosophische Bücher. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie nach dem Abitur Philosophie und als Nebenfächer Griechisch und evangelische Theologie studierte. Sie ging an die Universität in Marburg, wo der Philosoph Martin Heidegger lehrte. Wie entwickelte sich ihr Studium?

Kurt Sontheimer: Die Marburger Studienzeit Hannah Arendts ist jedoch extrem kurz. Das hat mit dem Mann zu tun, dessentwegen sie an diese Universität gegangen war, Martin Heidegger. Die Studentin verliebt sich in den sie begeisternden Philosophen, und dieser erwidert ihre Liebe, jedoch unter so schwierigen, vor jeder Entdeckung zu schützenden äußerlichen Bedingungen, dass sie es in Marburg nicht lange aushält und 1925 für ein Semester nach Freiburg geht. Hier lehrt der große Philosoph Edmund Husserl. Doch sie bleibt nicht lange in Freiburg, sondern zieht 1926 weiter nach Heidelberg zu dem ebenfalls vielbeachteten modernen Philosophen Karl Jaspers, der sie als seine Doktorandin annimmt.

Kurt Sontheimer, Hannah Arendt – Der Weg einer großen Denkerin, Piper Verlag, München, 2005, S.28-29

Orelie: Nach ihrer Promotion im Jahr 1928 bei Karl Jaspers erhielt Hannah Arendt ein Stipendium, um eine Studie über das Leben der von 1771-1833 in Preußen lebenden Jüdin Rahel Varnhagen zu erarbeiten. In dieser Forschungsarbeit beschäftigte sich Hannah Arendt mit der deutsch-jüdischen Assimilation. Zur selben Zeit heiratete sie Günther Stern, der wie sie Philosophie studiert hatte. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Januar 1933 wurde sich Arendt des stark zunehmenden Antisemitismus auch in Universitätskreisen bewusst. Sie selbst wurde im Juni 1933 von der Gestapo verhaftet und kam einige Tage in ein Berliner Gefängnis. Nach ihrer Entlassung ergriff sie die Flucht und schaffte es nach Paris zu gelangen. Diese schlimmen Ereignisse führten zu einem Umdenken in Hannah Arendts Leben.

Kurt Sontheimer: So führte im Falle der Hannah Arendt die politische Bewusstseinsbildung einerseits zu einem Abschied aus der philosophisch-akademischen Welt, in der sie sich eine Zeitlang so wohl gefühlt hatte, andererseits zu ihrer Bereitschaft, nun selbst praktisch politisch tätig zu werden.

Ibid, S.38

Orelie: Nachdem das nationalsozialistische Deutschland 1940 das nördliche Frankreich besetzte und die Vichy-Regierung im südlichen Teil mit den Nazis kollaborierte, wurde auch Hannah Arendt verhaftet. Sie kam schließlich in das Lager Gurs, einem Ort in den Pyrenäen. Es gelang ihr zusammen mit einigen anderen Frauen zu fliehen und bis nach Montauban zu kommen. Dort traf sie Heinrich Blücher, einen kommunistischen und anarchistischen Autodiktaten, den sie 1936 in Berlin kennengelernt hatte und den sie nach ihrer Scheidung von Günther Stern im Jahr 1940 heiratete. Auch ihre Mutter konnte nach Montauban fliehen. Mit Hilfe von Hannah Arendts Kontakten zu jüdischen Organisationen erreichten die drei Lissabon. Von dort aus konnten ihr Mann und sie im Frühjahr 1941 ein Schiff nehmen, das sie in die USA brachte. Hannah Arendts Mutter kam kurze Zeit später nach. Nun waren alle drei in Sicherheit, aber ihr Zusammenleben gestaltete sich schwierig, weil Heinrich Blüchers sozial einfache Herkunft bei Hannahs Mutter auf Vorbehalte stieß. Deshalb nahm sie im Jahr 1948 ein Schiff, um zu ihrer Stieftochter nach London zu ziehen. Doch starb Martha Arendt während der Überfahrt an einem Asthmaanfall. Ihre Tochter Hannah war zu der Zeit schon eine anerkannte Publizistin, die an ihrem bedeutenden Werk The Origins of Totalitarianism schrieb, das 1951 in New York erschien. Die deutsche und von Hannah Arendt überarbeitete deutsche Ausgabe mit dem Titel Elemente und Ursprünge totaler Herrschafterfolgte vier Jahre später. Was können Sie zu diesem dreiteiligen Werk, zu dem Hannah Arendt ein Vorwort schrieb, mitteilen?

Kurt Sontheimer: Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches erklärt sie die Zielsetzung ihres Werkes mit den Worten: „Das Buch handelt von den Ursprüngen und Elementen der totalitären Herrschaft, wie wir sie als eine, wie ich glaube, neue >Staatsform< im Dritten Reich und in dem bolschewistischen Regime kennengelernt haben. Die Ursprünge liegen in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft; die Elemente, die in diesem Zerfallsprozess frei werden, sind ihrerseits in den ersten beiden Teilen in ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt und in dem dritten Teil in ihrer totalitären Kristallisationsform analysiert.” Wir haben uns inzwischen durch weitere Forschungen daran gewöhnt, das Leben und die Entwicklung in den totalitären Staaten, vor allem im Nationalsozialismus des Dritten Reichs, in vielen Einzelheiten präsentiert zu bekommen, und manches davon läuft nicht auf Ideologie und Terror hinaus. Vieles von dem, was Historiker über den Alltag des Lebens im Dritten Reich zutage förderten, ist tatsächlich weit entfernt von Arendts Analyse, in der die Konzentrationslager als die typische Institution des Totalitarismus erscheinen. Doch hat niemand wie sie den die Humanität bedrohenden, ja vernichtenden Charakter des Totalitarismus erklärt und plausibel gemacht.

Ibid., S.72,74

Orelie: Karl Jaspers hatte für die deutsche Ausgabe ein Geleitwort geschrieben. Was können Sie zu der langen und tiefen Freundschaft zwischen Hannah Arendt und ihrem ehemaligen Doktorvater sagen?

Kurt Sontheimer: Die Freundschaft mit Karl Jaspers, dem Hannah Arendt anfangs mit großem Respekt begegnete, verwandelte sich zunehmend in ein persönliches Für- und Miteinander, auf das beide allergrößten Wert legten. Sie hatten sich viel zu sagen und viel zu geben, aber das Größte und Eindrücklichste waren gewiss ihre vielen langen Gespräche, die vor allem für Hannah Arendt so unverzichtbar waren, weil sie nie auf der Stelle traten, sondern zu neuen Erkenntnissen und zu neuer Klarheit im Denken führten. Was Karl Jaspers an seiner Schülerin und geistigen Gefährtin Hannah Arendt besonders schätzte, war ihre Unabhängigkeit.

Ibid., S.226, 228

Orelie: Karl Jaspers verteidigte auch Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem, das schon wegen seines Untertitels Ein Bericht von der Banalität des Bösen auf viel Kritik stieß. Sie hatte als Journalistin für die Zeitung New Yorker geschrieben und in dem Jerusalemer Gerichtssaal den Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann miterlebt, der wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk und Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt wurde. Das gegen Eichmann ausgesprochene Todesurteil wurde am 29. Mai 1962 vollstreckt. Hannah Arendts Buch basiert auf diesem Prozess, doch beschreibt sie gleichzeitig die Geschichte des Holocausts. Doch was macht ihr an all der Kritik am meisten zu schaffen?

Kurt Sontheimer: Doch schlimmer als die sachlichen Meinungsverschiedenheiten sind für Hannah Arendt die Anschuldigungen, die ihre Person und ihre Integrität betreffen. Man beschimpft sie als herzlos und gefühllos gegenüber dem Schicksal des jüdischen Volkes, zu dem sie doch auch gehöre.

Ibid., S.199

Orelie: Kommen wir auf ihre Universitätslaufbahn in den Vereinigten Staaten von Amerika zu sprechen. 1951 hatte sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten. Zwei Jahre später wurde sie Professorin am New Yorker Brooklyn College. 1959 unterrichtete sie ein Jahr lang als Gastprofessorin an der Princeton University. Ab dem Jahr 1963 war sie Professorin an der University of Chicago und von 1967 bis 1975 an der New School for Social Research in New York. So konnte sie auf eine akademische Laufbahn zurückblicken, die ihr wegen der nationalsozialistischen Machtergreifung an deutschen Universitäten versagt geblieben war. Diese für sie schwerwiegende Erfahrung prägte auch ihre Konzeption des Politischen. Können sie hierzu etwas sagen?

Kurt Sontheimer: In Wahrheit kommt es darauf an, sich dem Geist ihres politischen Denkens zu öffnen, das von der schrecklichen Erfahrung des Totalitarismus seinen Ausgang nahm und der Politik die rettende Aufgabe zuwies, die Menschen in ihrer Pluralität fähig zu machen, in Frieden miteinander zu leben und sich gegenseitig Rechte zu verleihen. Wie dies gehen könnte und was dafür geleistet werden müsste, dies sind die Fragen, auf die sie mit ihrer idealtypischen Konzeption von Politik als Handeln in Freiheit antwortet. Hannah Arendts hoher Idee des Politischen nahezukommen, und sich bewusst machen: Vereinbarung durch Sprechen und Handeln ist besser als Ausübung von souveräner Gewalt; gemeinsames Handeln bewirkt mehr wahre Macht als bloße Herrschaft; die Wahrnehmung politischer Verantwortung ist besser als der Rückzug ins Private. Hannah Arendts besonderes Verständnis von Politik ist eine Einladung an die Bürger, mitzumachen, dabei zu sein und, allen Enttäuschungen und Frustrationen zum Trotz, teilzuhaben am öffentlichen Glück, das Handeln in Freiheit hervorbringt.

Ibid., S.257

Orelie: Wie stand sie bei einer solchen hohen Idee politischen Handelns den Deutschen, die dem nationalsozialistischen Totalitarismus gedient hatten, nach dem Krieg gegenüber?

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt verwirft alle Versuche , den Nationalsozialismus und seine Verbrechen aus der deutschen Geschichte oder dem sogenannten deutschen Nationalcharakter herzuleiten. Hannah Arendt beginnt mit einer eindrucksvollen Schilderung der Situation Deutschlands nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg: „In weniger als sechs Jahren zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte. Der Anblick, den die zerstörten Städte in Deutschland bieten, und die Tatsache, dass man über die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Bescheid weiß, haben bewirkt, dass über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland.

Ibid., S.141,143,144

Orelie: Was bemerkte Hannah Arendt bei ihren Besuchen im Nachkriegsdeutschland? Lassen wir sie hierzu selbst zu Wort kommen.

Kurt Sontheimer: „Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen nur ein Achselzucken übrig haben, oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.”

Ibid., S.145

Orelie: Wie hat Hannah Arendt Jahre später die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland beurteilt?

Kurt Sontheimer: Hannah Arendt hat sich über die Qualität der Demokratie in der Bundesrepublik später kaum noch öffentlich geäußert. Sie wird bei aller Skepsis die im großen und ganzen gelungene politische Stabilisierung der Bundesrepublik als Demokratie begrüßt haben.

Ibid., S.148

Orelie: Hannah Arendt musste mit dem Tod Karl Jaspers im Februar 1969 und dem ihres Mannes Heinrich Blücher im Oktober 1970 fertig werden. Sie selbst starb am 4. Dezember 1975 in New York. Was wollen Sie abschließend sagen?

Herbert Vorgrimler: Trotz dieser Verluste, an denen sie schwer zu tragen hatte, wusste Hannah Arendt sich stets von guten Freunden umgeben und umsorgt. Da ist ja nicht nur die Denkerin Hannah Arendt mit ihrem eigenen Beitrag zur politischen Theorie, da ist auch die kritische Beobachterin des politischen Lebens mit ihren großen Aufsätzen zur Politik und ihren aktuellen politischen Kommentaren, in denen sie offen Partei ergreift für das, was ihr richtig und notwendig dünkt. Hannah Arendt hat immer für sich selbst gedacht und geurteilt und nicht nach Beifall geschielt. Sie wusste sich zu wehren, wenn sie angegriffen wurde; ihre Unabhängigkeit war ihr wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer Richtung oder Gruppe. Hinter diesem eigenen Denken stand Hannah Arendt als eine Persönlichkeit mit der „Leidenschaft der Existenz selbst.” Ihre Größe lag in ihrer menschlichen Qualität.

Ibid., S.271-272

Orelie: Herr Kurt Sontheimer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch

,