Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Vincent van Gogh – Auf der Suche nach einem Beruf

Orelie: Guten Tag, Herr Vincent van Gogh. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Bevor Sie mit dem Zeichnen und Malen begannen, übten Sie verschiedene Tätigkeiten aus. Im Alter von sechzehn Jahren traten Sie als Angestellter in die Den Haager Kunsthandlung Goupil & Cie ein. Vier Jahre später wurden Sie in deren Handelsabteilung in London und ein Jahr darauf in die Hauptstelle nach Paris versetzt. Dann arbeiteten Sie wieder in London und ohne Ihr Einverständnis kamen Sie zurück nach Paris. Dort wurde Ihnen nach fast sechs Jahren zum ersten April 1876 gekündigt. Sie fanden daraufhin eine Arbeitsstelle als unbezahlter Hilfslehrer in einem Internat in der östlich von London gelegenen Küstenstadt Ramsgate. Welche Erinnerung haben Sie an diese Zeit?

Vincent van Gogh: Einer meiner ersten Eindrücke war, dass das Fenster der nicht sehr großen Schule auf das Meer geht. Es ist ein Internat mit vierundzwanzig Jungen von zehn bis vierzehn Jahren. Was ich den Jungen so alles beibringen muss. Vor allem Französisch, die Anfangsgründe und sonst alles mögliche, wie Rechnen, Aufgaben überhören, Diktat. Natürlich muss ich auch außerhalb der Schulstunden Aufsicht über die Jungen führen; so ist meine Zeit ziemlich besetzt. Wenn die Jungen ein bisschen mehr Lärm machten, konnte es wohl geschehen, dass sie abends ihren Tee und ihr Brot nicht bekamen. Sie haben so wenig anderes als ihr Essen und Trinken, worauf sie sich freuen und womit sie von einem Tag zum anderen weitermachen. Ein anderer eigenartiger Ort ist auch das Zimmer mit dem verfaulten Fußboden, wo die sechs Waschbecken stehen, in denen sie sich waschen müssen; ein fahles Licht fällt durch das Fenster mit den zerbrochenen Scheiben auf den Waschtisch, das ist ein recht trübseliger Anblick.

Vincent van Gogh, Briefe an seinen Bruder, Anaconda Verlag, Köln, 2006, S.29,30,32

Orelie: Zwei Monate später zog das Internat nach Isleworth im Westen von London um, wo Sie bald die armen Viertel der Großstadt kennenlernten. Die Armut der Menschen bewegte Sie sehr und so wollten Sie ihnen das Evangelium nahe bringen. Diese Möglichkeit bot sich Ihnen in Isleworth an der Schule des Methodistenpfarrers Jones, wo Sie auch als Hilfsprediger tätig sein konnten. So nahmen Sie die Stelle an. Wie fühlten Sie sich, nachdem Sie Ihre erste Predigt gehalten hatten?

Vincent van Gogh: Ich hatte das Gefühl wie jemand, der aus einem dunklen, unterirdischen Gewölbe wieder ins freundliche Tageslicht kommt, als ich auf der Kanzel stand, und es ist mir ein herrlicher Gedanke, dass ich fortan das Evangelium predigen werde, wohin ich auch kommen mag; um das gut zu tun, muss man das Evangelium in seinem Herzen haben, möge Er es darin schaffen.

Ibid, S.40

Orelie: Doch erhielten Sie durch die Vermittlung eines Onkels zu Beginn des neuen Jahres 1877 eine Arbeitsstelle in einer Buchhandlung in Dordrecht, die Sie annahmen. Dennoch hegten Sie weiterhin den starken Wunsch, Prediger zu werden. So erreichten Sie Mitte Mai mit der Unterstützung Ihrer Familie, sich auf die Aufnahmeprüfung für das Theologiestudium vorbereiten zu können. Was schrieben Sie über diese Zeit, denn im Juli 1978 gaben Sie das vorgesehene Studium auf?

Vincent van Gogh: Abends bin ich müde, und ich kann nicht so zeitig aufstehen. Die Arbeit und das Schreiben geht noch nicht so schnell und leicht, wie ich möchte. Wenn ich so beim Schreiben sitze, mache ich ganz unwillkürlich ab und zu eine kleine Zeichnung, zum Beispiel Elias in der Wüste mit stürmischem Wolkenhimmel, im Vordergrund ein paar Dornensträucher; es ist weiter nichts Besonderes, aber ich sehe es manchmal alles so deutlich vor Augen, ich glaube, in solchen Augenblicken könnte ich voll Begeisterung darüber sprechen – möge es mir später vergönnt sein, das zu tun. Doch sind griechische Stunden an einem heißen drückenden Sommernachmittag, mit dem Gefühl, dass einem viele schwere Prüfungen bevorstehen, die von sehr gelehrten und schlauen Herren Professoren abgenommen werden, wesentlich beklemmender als die Brabanter Kornfelder, die an einem solchen Tag gewiss sehr schön sind. Tag für Tag tue ich, was ich irgend kann, um mich einzuarbeiten, besonders in Latein und Griechisch, und ich habe schon eine ganze Menge Übersetzungen gemacht. Wer aufrichtig lebt und wahre Mühsal und Enttäuschung erfährt und sich dadurch doch nicht unterkriegen lässt, der ist mehr wert als einer, dem alles glückt und nach Wunsch geht.

Ibid., S.50, 53, 54, 65

Orelie: Nach dem Abbruch Ihres Studiums setzte sich Ihr Vater dafür ein, dass Sie im August 1978 in Brüssel eine Vorbereitungsschule für das Predigeramt besuchen konnten. Was können Sie zu dieser Schule sagen?

Vincent van Gogh: Die flämische Ausbildungsanstalt hat einen dreijährigen Kursus. Und es wird nicht einmal verlangt, dass man diese Schule durchgemacht hat, ehe man sich um eine Stellung als Evangelist bewerben kann. Ces messieurs in Brüssel wollten, ich solle erst einmal auf drei Monate hinkommen, damit wir einander besser kennenlernen, doch auf die Dauer würde das auch wieder kostspielig werden.

Ibid., S.67, 68

Orelie: Leider erhielten Sie nach drei Monaten keine Anstellung. So entschieden Sie sich in dem belgischen Bergbaugebiet Le Borinage und dort in dem Dorf Pâturages als Hilfsprediger zu arbeiten. Ihr Vater unterstützte Ihr Vorhaben. Können Sie persönliche Erlebnisse aus dieser Zeit schildern?

Vincent van Gogh: So war es dieser Tage ein merkwürdiger Anblick bei dem weißen Schnee, abends gegen die Dämmerstunde, die Arbeiter aus den Gruben heimgehen zu sehen. Die Leute sind völlig schwarz, wenn sie aus den dunklen Gruben wieder ans Tageslicht kommen. Ihre Häuser, an den Hohlwegen, am Wald und an den Berghängen verstreut, sind meist sehr klein und wären eher Hütten zu nennen. Hier und da sieht man noch bemooste Dächer, und freundlich scheint abends das Licht durch die kleinen Fensterscheiben. Schon öfter habe ich hier gesprochen, manchmal in einem ziemlich großen, für religiöse Versammlungen eigens hergerichteten Raum, manchmal auch bei Zusammenkünften, die man abends in Arbeiterwohnungen abzuhalten pflegt, am besten wären sie wohl als Bibelstunden zu bezeichnen.

Ibid., S.73, 74

Orelie: Im Januar 1879 erhielten Sie eine Stelle als Evangelist in dem Dorf Wasmes. Zwei Monate später besuchte Sie Ihr Vater. Was haben Sie gemeinsam mit ihm unternommen?

Vincent van Gogh: Wir haben zusammen die drei Geistlichen des Borinage besucht, sind durch den Schnee gewandert und haben eine Bergarbeiterfamilie aufgesucht; auch sahen wir, wie aus einem Schacht die Kohlen heraufgeholt wurden, und Pa hat zwei Bibelstunden mitgemacht, so dass wir in den paar Tagen eine ganze Menge unternommen haben.

Ibid., S.74

Orelie: Die harte, gefährliche Arbeit der Bergleute und das beschwerliche Leben dieser Familien bewegte Sie so sehr, dass in sie in Ihren Zeichnungen festhielten.

Vincent van Gogh: Ich habe eine Zeichnung gemacht, die Bergleute darstellt. Kohlenarbeiter und -arbeiterinnen, wie sie frühmorgens im Schnee zur Grube gehen, auf einem Pfad an den Hecken hin, kaum wahrnehmbare Schatten in der Morgendämmerung. Im Hintergrund undeutlich gegen den Himmel die großen Grubengebäude und das Fördergerüst.

Ibid., S.86

Orelie: Sie verließen das Borinage und hegten nun den Wunsch, als Zeichner Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch schickte Ihr Bruder Theo Ihnen seit einiger Zeit Geld. Wie sahen Sie Ihre Zukunft?

Vincent van Gogh: Ohne mir irgendwie anzumaßen, hoffe ich doch, durch fleißiges Zeichnen dieser Arbeitertypen und so fort, dahin zu kommen, dass ich einigermaßen fähig werde, Illustrationen für Zeitschriften oder Bücher zu machen. Vor allem, wenn ich einmal soweit bin, dass ich mir öfter Modelle leisten kann, auch weibliche Modelle, werde ich noch bessere Fortschritte machen, das fühle ich und das weiß ich. Und wahrscheinlich werde ich auch dahin kommen, Bildnisse machen zu können, aber nur unter der Bedingung, dass ich viel arbeite.

Ibid., S.94, 95

Orelie: Herr Vincent van Gogh, ich danke Ihnen für dieses Gespräch