Orelie: Guten Tag, Herr Rainer Maria Rilke. Sie sind ein österreichischer Lyriker und in Ihren Gedichten kommt auch Ihre Religiosität zum Ausdruck. So widmen Sie in Ihrem Stundenbuch Franz von Assisi ein Gedicht. Wir wollen allerdings in unserem Gespräch von Paul Cézanne sprechen. Sie besuchten im Jahr 1907 in Paris eine Ausstellung im Salon d’Automne, die des im Jahr zuvor gestorbenen Künstlers gedachte. Cézannes Gemälde beeindruckten Sie tief. Was möchten Sie insbesondere hierzu sagen?
Rainer Maria Rilke: Ich wollte aber eigentlich noch von Cézanne sagen: dass es niemals noch so aufgezeigt worden ist, wie sehr das Malen unter den Farben vor sich geht, wie man sie ganz allein lassen muss, damit sie sich gegenseitig auseinandersetzen. Ihr Verkehr untereinander , das ist die ganze Malerei. Wer dazwischenspricht, wer anordnet, wer seine menschliche Überlegung, seinen Witz, seine Anwaltschaft, seine geistige Gelenkigkeit irgend mit agieren lässt, der stört und trübt schon ihre Handlung.
Rainer Maria Rilke, Briefe über Cézanne, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1952, erste Auflage 1983, S.55
Orelie: So lässt Cézanne den Farben freien Lauf. Wie zeigt sich das für Sie in seiner Kunst?
Rainer Maria Rilke: Da ist alle Wirklichkeit auf seiner Seite: bei diesem dichten wattierten Blau, das er hat, bei seinem Rot und seinem schattenlosen Grün und dem rötlichen Schwarz seiner Weinflaschen. Von welcher Dürftigkeit sind auch bei ihm alle Gegenstände: die Äpfel sind alle und die Weinflaschen gehören in rund ausgeweitete alte Rocktaschen.
Ibid, S.27
Orelie: Auch vergleichen Sie die Farben und wie Cézanne sie verarbeitete mit früheren seiner Gemälden.
Rainer Maria Rilke: In den ersten war die Farbe etwas für sich; später nimmt er sie irgendwie persönlich, wie kein Mensch noch Farbe genommen hat, nur um das Ding damit zu machen. Die Farbe geht völlig auf in dessen Verwirklichung; es bleibt kein Rest.
Ibid, S.38
Orelie: Kommen wir auf Cézanne als Menschen zu sprechen. Er kam am 19. Januar 1839 in Aix-en-Provence auf die Welt und verbrachte seine letzten Jahre in seinem Atelier, das sich nördlich von dieser Stadt befand. Mit großem Argwohn stand er jeder Erneuerung in Aix und auch an anderen Orten gegenüber. Können Sie hierzu etwas sagen?
Rainer Maria Rilke: So wenn er sich beklagt, wie sehr man täglich seine alte Stadt zerstört und entstellt. Abends ergrimmt er sich heimkehrend gegen irgendeine Veränderung, kommt in Zorn und verspricht sich schließlich, als er merkt, wie sehr der Ärger ihn erschöpft: zu Hause will ich bleiben; arbeiten, nur noch arbeiten.
Ibid., S.33
Orelie: Was sein Schaffensdrang betrifft, machte er eine Wandlung durch.
Rainer Maria Rilke: Was die Arbeit angeht, so behauptete er, er hätte bis zu seinem vierzigsten Jahre als Bohémien gelebt. Da erst, in der Bekanntschaft mit Pissaro, wäre ihm der Geschmack an der Arbeit aufgegangen. Aber dann auch so sehr, dass er die späteren dreißig Jahre seines Lebens nur noch gearbeitet hat. Ohne Freude eigentlich, wie es scheint, in fortwährender Wut, im Zwiespalt mit jeder einzelnen seiner Arbeiten, deren keine ihm das zu erreichen schien, was er für das Unentbehrlichste hielt.
Ibid., S.30
Orelie: Wir können von Glück sagen, dass er von dem Geld seines Vaters leben konnte. Können Sie seine Schaffensweise, réalisation, wie er sie nannte, noch weiter ausführen?
Rainer Maria Rilke: Dieser Vater hatte, wissend, dass Bohémiens in Elend sind und sterben, sich vorgenommen, für den Sohn zu arbeiten, war eine Art kleiner Bankier geworden. Cézanne verdankte es seiner Vorsorge, dass er später genug hatte, um ruhig malen zu können. Bei der dunkelsten Farbigkeit einsetzend, deckte er ihre Tiefe mit einer Farbenlage, die er ein wenig über sie hinausführte und immer so weiter, Farbe über Farbe hinaus erweiternd, kam er allmählich an ein anderes kontrastierendes Bildelement, bei dem er, von einem neuen Zentrum aus, dann ähnlich verfuhr. Ich denke mir, dass die beiden Vorgänge, des schauenden und sicheren Übernehmens und des Sich-Aneignens und persönlichen Gebrauchens des Übernommenen, sich bei ihm, vielleicht infolge einer Bewusstwerdung, gegeneinander stemmten, dass sie sozusagen zugleich zu sprechen anfingen, einander fortwährend ins Wort fielen, sich beständig entzweiten. Und der Alte ertrug ihren Unfrieden, lief in seinem Atelier auf und ab, das falsches Licht hatte, weil der Baumeister es nicht für nötig hielt, auf den alten Wunderling zu hören. Er lief hin und her in seinem Atelier, wo die grünen Äpfel herumlagen, oder setzte sich verzweifelt in den Garten.
Ibid., S.32, 31
Orelie: Nicht nur der Architekt auch Einwohner der Stadt Aix hielten ihn für einen Wunderling, weshalb er sich im Alter noch mehr in sein Atelier zurückzog.Was wollen Sie hierzu sagen?
Rainer Maria Rilke: Alt, krank, von der gleichmãßigen täglichen Arbeit jeden Abend bis zur Ohnmacht verbraucht. So sehr, dass er oft um sechs beim Dunkelwerden nach einem sinnlos eingenommenen Abendbrot schlafen ging. Böse, misstrauisch, jedes Mal auf seinem Weg zum Atelier verlacht, verspottet, misshandelt, – den Sonntag aber feiernd, die Messe und Vesper hörend wie als Kind, und von Madame Brémond, seiner Haushälterin, sehr höflich ein etwas besseres Essen verlangend.
Orelie: In Paris war er allmählich bekannt geworden, was die Ausstellung im Salon d’Automne beweist. Was können Sie zu Cézannes dort gezeigten Werken noch sagen?
Rainer Maria Rilke: Auch fiel mir sehr auf, wie manierlos verschieden sie sind, wie sehr ohne Sorge um Originalität, sicher, in jeder Annäherung an die tausendartige Natur sich nicht zu verlieren, vielmehr an der Mannigfaltigkeit draußen die innere Unerschöpflichkeit ernst und gewissenhaft zu entdecken. Sehr schön ist das alles.
Ibid., S.38, 39
Orelie: Möchten Sie abschließend noch etwas hinzufügen?
Rainer Maria Rilke: Daran, wieviel Cézanne mit jetzt zu tun gibt, merk ich, wie sehr ich anders geworden bin. Ich bin auf dem Wege, ein Arbeiter zu werden, auf einem weiten Wege vielleicht und wahrscheinlich erst bei dem ersten Meilenstein; aber trotzdem, ich kann schon den Alten begreifen, der irgendwo weit vorne gegangen ist, allein.
Ibid., S.40