Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Saul Bellow – Ravelstein

Orelie: Guten Tag, Herr Saul Bellow. Ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über Ihren Roman Ravelstein sprechen wollen. Abe Ravelsteins wirklicher Name ist Allan Bloom; ein amerikanischer Professor, Philosoph und Freund von Ihnen. Wie in Ihrem Roman ist er mit einem Bestseller berühmt und reich geworden. Blooms ausgezeichnete Kenntnisse in Literatur, Philosophie, Geschichte und Ökonomie tauchen auch in Ihrem Roman auf. Doch können wir nicht auf sie eingehen, weil sie den Rahmen unserer Unterhaltung sprengen würden. Ravelstein trifft seinen langjährigen Freund, den Schriftsteller Chick, mit dem Sie sich auch identifizieren im Pariser Luxushotel Crillon am Platz de la Concorde. Chick ist gleichzeitig der Ich-Erzähler in ihrem Roman. Abe Ravelstein spricht insbesondere von seinen Studenten, für die er zu einer Art Vaterfigur geworden ist und Sie erwähnen auch seinen Reichtum.

Saul Bellow: Schon bevor Ravelstein zu Geld gekommen war, hatte niemand daran gezweifelt, dass er unbedingt Armani-Anzüge brauchte und Koffer von Louis Vuitton, kubanische Zigarren, die in den USA nicht zu bekommen waren, Dunhill-Accessoires, Montblanc-Füller aus reinem Gold oder Kristallkelche von Lalique. Jedenfalls mussten seine Freunde, Kollegen, Schüler und Bewunderer nicht mehr einspringen, um seine luxuriösen Gewohnheiten zu subventionieren. Jetzt war es sehr reich. Er hatte ein schwieriges, aber erfolgreiches Buch geschrieben.

Saul Bellow, Ravelstein, Kiepenheuer & Witsch Verlag, e Book, S.11-12

Orelie: Abe Ravelstein ist homosexuell und sein Gefährte kommt aus Singapur.

Saul Bellow: Der hübsche Nikki war mit Anfang dreißig noch immer knabenhaft. Niemand bezweifelte Nikkis besondere Zuneigung für Abe. Nikki war vollkommen ehrlich, und zwar von Natur aus. Ein gut aussehender, eleganter, jungenhafter Mann mit glatter Haut und schwarzem Haar, ein Orientale. Er verstand sich bewusst als Exot. Damit will ich nicht sagen, dass er Allüren hatte, er war immer vollkommen natürlich. Nikki war allerdings wie ein Prinz aufgewachsen. Außerdem besaß er den Mut, auf seinem Recht zu bestehen, genau der zu sein, der er schien.

Ibid, S.13- 14

Orelie: Ravelstein findet allerdings auch Chicks Gemahlin sehr reizvoll.

Saul Bellow: Rosamund, eine sehr hübsche, wohlerzogene, intelligente junge Frau mit den besten Manieren. Es gefiel ihm, dass sie sich in einen alten Knacker wie mich verliebt hatte. „Es gibt eine besondere Sorte Frauen, die ein Faible für alte Männer hat”, sagte er. Wie ich schon andeutete, zog ihn unkonventionelles Verhalten besonders an, erst recht, wenn Liebe im Spiel war. Sehnsucht galt ihm sehr viel.

Ibid, S.34

Orelie: Können Sie erklären, was Ravelstein mit dem Wort Sehnsucht meinte?

Saul Bellow: Ohne ihre Sehnsucht war die Seele wie ein gebrauchter Schlauch, der vielleicht für einen Sommer am Strand ausreichte, mehr nicht.

Ibid., S.35

Orelie: Wie beschreibt Chick die Beziehung zwischen ihm und Ravelstein?

Saul Bellow: Wir waren ganz und gar offen zueinander. Man konnte sprechen, ohne den anderen zu beleidigen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er mir seine strengsten Urteile ersparte, wenn ich noch nicht stark genug war, um sie zu ertragen. Auch ich habe ihn manchmal geschont. Dennoch war es eine gewaltige Erleichterung für mich, dass ich über Schwächen und Niedrigkeiten mit ihm so unverblümt sprechen konnte wie mit mir selber. In der Selbsterkenntnis war er mir weit voraus. Doch jedes persönliche Gespräch verwandelte sich schließlich in guten, sauberen nihilistischen Spaß. „Mag sein, dass ein nicht analysiertes Leben nicht lebenswert ist. Kann aber auch sein, dass man sich nach der Analyse wünscht, man wäre tot”, sagte ich zu ihm. Ravelstein war begeistert. Er lachte, bis sich seine Augen himmelwärts verdrehten.

Ibid., S.45-46

Orelie: Kann man also sagen, dass Spaß ihm gelegen kam?

Saul Bellow: Man hat gelegentlich gesagt, dass seine Lieblingsstudenten ihren Spaß mit Ravelstein hatten – dass er komisch war, zum Schreien. Der Spaß war aber nur vordergründig lustig oder unterhaltsam; bei ihm wurde Lebenskraft übertragen. Er mochte in vielem seltsam sein, aber das nährte seine Energie, und diese Energie teilte sich mit, wurde übertragen und weiter verschenkt.

Ibid.,S. 67

Orelie: Abe Ravelstein wird krank, hat mehrere Infektionen und liegt fast völlig bewegungslos auf einer Intensivstation. Was haben Sie davon mitbekommen?

Saul Bellow: Als er die Intensivstation verließ konnte er nicht mehr gehen. Bald war er jedoch in der Lage, seine Hände ein wenig zu bewegen. In einem schwachen Moment, von der Krankheit entkräftet, die Augen nur halb geöffnet und mit einer Stimme, in der die Worte unverständlich waren und er sich hauptsächlich durch Laute verständlich machte – mehrere Tage lang war seine Sprache so reduziert gewesen wie sein Blick-, versuchte er mir mit den Augen und mit Worten etwas zu sagen. Schließlich begriff ich, was er mir sagen wollte – dass er ausgerechnet jetzt einen BMW bestellt hatte.
Ibid., S.85, 87

Orelie: Der BMW ist für Nikki.

Saul Bellow: Seiner Meinung nach sollte er etwas Besonderes haben, das ganz allein ihm gehört.

Ibid., S.87

Orelie: Allan Bloom hat sich zu seiner Homosexualität bekannt, aber nicht von einer HIV-Infektion gesprochen, wie Chick zu verstehen gibt.

Saul Bellow: Ravelstein wollte mir alles erklären. Aber warum machte er sich die Mühe, mir das alles zu erzählen, dieser kräftige Jude aus Dayton in Ohio? Weil es unbedingt gesagt werden musste. Er war HIV-positiv, und er starb an den daraus resultierenden Komplikationen. Entkräftet wie er war, zog er sich eine endlose Reihe von Infektionen zu. Dennoch wollte er mir wieder und wieder erklären, was Liebe sei – das Bedürfnis, das Bewusstsein der Unvollständigkeit, das Verlangen nach Ganzheit, und wie die Schmerzen des Eros sich mit den ekstatischsten Freuden verbanden.

Ibid., S.113

Orelie: Ravelstein kommt zurück in seine Wohnung, wo er auf einen Rollstuhl angewiesen ist, der von Nikki geschoben wird. Sein Leben wird von nun an von Krankenhausaufenthalten und Medikamenten bestimmt. Das Leid und der Tod nehmen einen entscheidenden Platz in Ihrem Roman ein. Doch bevor Ravelstein wieder ins Krankenhaus muss, gibt er eine außergewöhnliche Party. Können Sie diese beschreiben?

Saul Bellow: Er hatte sich eine neue Videoanlage gekauft. Sänger und Musiker waren in voller Körpergröße und in einer Art unmittelbarer tropischer Dschungelbeleuchtung zu sehen. Der Bildschirm; auf dem die Schauspieler und Sänger erschienen, war flach, dünn, hoch, breit und unfassbar wirklich – Kunst, durch Technologie aufgerüstet, wie sich Ravelstein ausdrückte. Ravelstein saß in seinem Kamelhaarmorgenrock in seinem Sessel und bewunderte und erklärte die neue Anlage – und machte sich gleichzeitig lustig über die Ahnungslosigkeit der noch nicht Initiierten. Schließlich wurde es einfach zu viel für ihn. Nikki half ihm hoch und brachte ihn nach draußen. Das Video lief weiter ohne Ton. Die Wohnung leerte sich schnell. Wenn noch verspätet Gäste auftauchten, drückte Nikki den Knopf, um die Fahrstuhltüren aufzuhalten, und sagte: „Abe hätte sich wahnsinnig gefreut, Sie zu sehen, aber er hat jetzt alle möglichen Medikamente eingenommen und weiß nicht mehr, wo vorn und hinten ist.”

Ibid., S.201-202

Orelie: Abe Ravelstein ist trotz seines stark angeschlagenen Gesundheitzustandes noch nach Paris geflogen. Wie erklären Sie sich diese Tatsache?

Saul Bellow: Obwohl es mit Ravelstein zu Ende ging, war er für den Flug doch noch fit genug. Paris gehörte zu seinen größten Freuden: Er hatte dort viele enge Freunde. Bis zum Schluss jedoch wollte ich nicht begreifen, dass Ravelstein in Paris ein zweites, ein zusätzliches Leben führte. Er kam von diesem kurzen Abschiedsausflug zurück und war merklich fröhlicher. Er erzählte nichts von seinen französischen Freunden, vermittelte aber den Eindruck, als habe er genau das getan, was getan werden musste.

Ibid., S.200-201

Orelie: Welche Gedanken beschäftigen Ravelstein, nachdem es ihm schlechter und schlechter geht.?

Saul Bellow: Es war uns wiederholt klargemacht worden, dass er das nicht überleben würde. Unregelmäßig atmend lag er da, ein Kästchen voller Medizinfläschchen in der Nähe des Kopfes. Er atmete durch den Mund. Ich merkte, dass er jüdischen Ideen oder jüdischen Weisheiten nachspürte. Jetzt beschäftigte ihn ausschließlich die Schrift. Er sprach über die Religion und das schwierige Projekt, im wahrsten Sinne des Wortes ein Mensch zu sein, ein Mensch zu werden und nichts als ein Mensch. Manchmal drückte er sich klar aus, meistens aber konnte ich ihm nicht mehr folgen.

Ibid, S.208-209

Orelie: Wie ist Ihnen zumute, nachdem Nikki ohne Abe Ravelstein in dessen Wohnung weilt?

Saul Bellow: Nikki, Ravensteins Erbe und nächster Hinterbliebener wohnte um die Ecke in dessen Appartement. Zwischen seinem Haus und dem unseren lag ein Grasplatz, auf dem kleine Kinder herumstolperten und Werfen und Fangen übten. Von meinem Schlafzimmerfenster aus sah ich hinüber zu der Wohnung, die einmal Ravenstein gehört hatte. Das Licht war an. Es gab keine Partys mehr. Es war noch schlimmer, wie Rosamund zutreffend bemerkte: „Die ganze Gegend ist ein einziger Friedhof. Die Gemeinschaft deiner Toten. Man kann ja nicht mehr mit dir spazieren gehen, ohne dass du ständig auf Türen und Fenster zeigst, hinter denen alte Freunde und Bekannte gelebt haben. Wir können nicht um den Block gehen, ohne dass dir nicht etwas zu alten Kumpels und Freundinnen einfällt. Ravelstein war ein lieber Freund – eine Ausnahme. Aber er hätte gesagt, dass du einfach zu schwer an deiner Niedergeschlagenheit trägst.”

Ibid., S.211-212

Orelie: Herr Saul Bellow, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.