Orelie: Ich begrüße Herrn Karl Rahner und Herrn Dietrich Bonhoeffer, zwei der bedeutendsten Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts, und wie könnte es anders sein, als dass ich Sie frage, was unter der Gnade Gottes zu verstehen ist.
Karl Rahner: Ich würde sagen, das, was wir Gnade Gottes nennen, ist zunächst einmal etwas, was im Grunde genommen die Selbstmitteilung Gottes in der Tiefe der geistigen Existenz des Menschen meint. Diese Selbstmitteilung Gottes ist nun nicht etwas, was da und dort nur einmal sporadisch im Laufe der Weltgeschichte bei den sogenannten Propheten passiert, sondern sie ist etwas, das von vornherein, immer und überall – ob angenommen in Freiheit oder abgelehnt – in jedem Menschen gegeben ist. Gott ist, so möchte ich sagen, die innerste Dynamik der Welt und des Geistes des Menschen. Auch dort, wo der Mensch darauf gar nicht reflektiert, auch dort, wo er das gar nicht sagen kann, ist von vornherein diese gnadenhafte Selbstmitteilung Gottes in der geistigen Wirklichkeit des Menschen gegeben.
Karl Rahner, Karl Rahner – Im Gespräch Band 1: 1964-1977, Kösel Verlag, München, 1982, S.154.
Orelie: Herr Dietrich Bonhoeffer, Ihr Lied Von guten Mächten bekundet das gerade von Karl Rahner Gesagte, und so zitiere ich seinen Anfang: Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar, – so will ich diesen Tag mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr. In Ihrem Buch Nachfolge, das 1937 erschienen ist, machen Sie jedoch einen Unterschied zwischen der billigen Gnade und der teuren Gnade und rufen den Christen zu einem verantwortlichen Handeln auf. In Berufung auf die Bergpredigt rufen Sie die Christen dazu auf, sich Jesus Christus und der Gemeinde der Heiligen anzuschließen, das heißt, sich dem NS-System und seinen willkürlichen Befehlen zu verweigern. Können Sie das genauer erklären?
Dietrich Bonhoeffer: Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muss. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft.
Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, Gütersloher Verlagshaus, 2008, S.29 und 31
Orelie: Was können Sie, Pater Rahner, hierzu sagen?
Karl Rahner: Kann man die Gnade in diesem Leben überhaupt erfahren? Hieße dies bejahen nicht, den Glauben zu zerstören, jene hell-dunkle Wolke, die uns einhüllt, solange wir hier auf Erden pilgern? Haben wir uns schon einmal zu etwas entschieden, rein aus dem innersten Spruch unseres Gewissens heraus, dort, wo man es niemand mehr sagen, niemand mehr klarmachen kann, wo man ganz einsam ist und weiß, dass man eine Entscheidung fällt, die niemand einem abnimmt, die man für immer und ewig zu verantworten hat? Waren wir einmal gut zu einem Menschen, von dem kein Echo der Dankbarkeit und des Verständnisses zurückkommt, und wir auch nicht durch das Gefühl belohnt werden, selbstlos, anständig und so weiter gewesen zu sein? Suchen wir selbst in solcher Erfahrung unseres Lebens, suchen wir die eigenen Erfahrungen, in denen gerade uns so etwas passiert ist. Wenn wir solche finden, haben wir die Erfahrung des Geistes gemacht, die wir meinen. Suchen wir selbst in der Betrachtug unseres Lebens die Erfahrung der Gnade. Nicht um zu sagen: Da ist sie, ich habe sie; – man kann sie nicht finden, um sie triumphierend als sein Eigentum und Besitztum zu reklamieren.
Karl Rahner, Von der Gnade des Alltags, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau, 2006, S.58, 61-63 und 68
Orelie: Herr Bonhoeffer, möchten Sie dem schon Gesagten noch etwas hinzufügen?
Dietrich Bonhoeffer: Da die Zeit das kostbarste, weil unwiederbringlichste Gut ist, über das wir verfügen, beunruhigt uns bei jedem Rückblick der Gedanke etwa verlorener Zeit. Verloren wäre die Zeit, in der wir nicht als Menschen gelebt, Erfahrungen gemacht, gelernt, geschaffen, genossen und gelitten hätten. Verlorene Zeit ist unausgefüllte, leere Zeit. Zwar sind gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen, deren man sich nachträglich bewusst wird, nur Abstraktionen vom Eigentlichen, vom gelebten Leben selbst. Aber wie Vergessenkönnen wohl eine Gnade ist, so gehört doch das Gedächtnis, das Wiederholen empfangener Lehren, zum verantwortlichen Leben.
Dietrich Bonhoeffer, Lebensworte – Von guten Mächten wunderbar geborgen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 2006, S.7