Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Heinz Robert Schlette – Albert Camus

Orelie: Guten Tag, Herr Heinz Robert Schlette. Ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind. Sie haben sich in Ihren Forschungsarbeiten viel mit Albert Camus beschäftigt und so werden wir in unserem Gespräch von ihm sprechen. Was wollen Sie als erstes sagen?

Heinz Robert Schlette: Camus hat sehr früh die Zwiespältigkeit entdeckt, die weltliches und menschliches Sein charakterisiert. Die Gleichzeitigkeit von Schönheit und Bedrohlichkeit der Welt bildet ein nicht auflösbares Paradox. Nicht erst der Mensch bringt durch seinen Geist den Zwiespalt in die Welt, er liegt, rätselhaft genug, in ihr selbst.

Heinz Robert Schlette, Albert Camus heute, in: Albert Camus, Weder Opfer noch Henker, Diogenes Verlag, Zürich 1996, 2006, S.64

Orelie: Mit dieser Widersprüchlichkeit zwischen dem Schönen und dem Bedrohlichen, der Freude und dem Leiden in der Welt findet Camus sich nicht ab?

Ibid, S.35

Heinz Robert Schlette: Das Problem verweist uns zunächst auf die erste Empörung gegen das Elend, das Camus sehr genau kannte, von hier aus führt der Weg zu der Formel des >Homme révolté<: „Ich empöre mich, also sind wir.” Doch die Empörung Camus’ hat noch einen anderen, tieferen, wenn man will: metaphysischen Hintergrund: Die „Weigerung”, sich abzufinden mit einem Leben ohne Freiheit, ohne die Erfüllung der elementarsten menschlichen Bedürfnissen und Freuden, hängt bei Camus direkt mit der Einsicht zusammen, dass in Anbetracht des allgemeinen Elends und der offenbaren Paradoxien eine Theodizee unmöglich ist. Die Absurdität, der Zwiespalt, die Widersprüchlichkeit werden derart deutlich und bewusst erfahren, dass sie die Annahme eines personalen Gottes als rational nicht motivierbar erscheinen lassen.

Ibid, S.76–77

Orelie: So ist der absurde Mensch jeder Hoffnung beraubt. Camus schreibt in Der Mythos des Sisyphos: „Ich frage, was die conditio, die ich als die meine erkenne, nach sich zieht; ich weiß, dass sie Dunkel und Unwissenheit impliziert, und man versichert mir, diese Unwissenheit erkläre alles, und diese Nacht sei mein Licht”.

Heinz Robert Schlette: Seine Position ist nicht dezidiert atheistisch, sondern die des Nichtwissens, der Agnosis, die allerdings zum Atheismus tendiert. Die Realität des Bösen ist für Camus das stärkste Argument gegen jede personale Gottesvorstellung. Jegliches metaphysische Totalwissen und jeder Zugang zur Religion und zum ursprünglichen Mythos scheitert an der >clairvoyance< des Denkens und der realen Erfahrung. Die Konsequenz lautet dann: Sich selbst behaupten gegen das Absurde durch den Widerspruch, den Protest, die Empörung, die Weigerung, sich abzufinden und zu schweigen, aber auch durch die Mobilisierung aller humanen Energien, durch das Handeln – als Politiker, als Künstler, als engagierter Zeitgenosse, als „Moralist”.

Ibid., S.65-66

Orelie: So mündet das Engagement bei Camus in die Revolte. Nachdem 1951 sein Buch Der Mensch in der Revolte erschien, kam es zum Bruch zwischen ihm und Jean-Paul Sartre, der einen marxistischen und revolutionären Standpunkt vertrat. Camus blieb für Sartre ein Moralist. Was wollen Sie hierzu sagen?

Heinz Robert Schlette: Es spricht für die Aufrichtigkeit Sartres, dass er nach dem tragischen Tod Camus’ am 4. Januar 1960 im France-Observateur einen kurzen Nachruf geschrieben hat, in dem er bekennt, wie sehr er Camus trotz der Differenzen verbunden war. Sartre nennt Camus hier einen „Cartesianer des Absurden”, der sich „weigerte”, „den sicheren Boden des Moralischen zu verlassen und sich auf die ungewissen Pfade der Praxis zu begeben. Und Sartre fährt fort: „Wir ahnten es, ahnten auch die Konflikte, die er verschwieg; denn die Moral, für sich genommen, fordert die Revolte und verdammt sie zugleich.”

Ibid.,S.58

Orelie: Camus wird vor allem der Vorwurf gemacht, er würde die Geschichte unterschätzen.

Heinz Robert Schlette: Erinnern wir uns daran, dass Camus das hier liegende Problem aus politischer Praxis kannte: Er war 1934/35 Mitglied der Kommunistischen Partei; sein Engagement in der Résistance, bei der Zeitung Combat, im Algerienstreit, nicht zuletzt aber die im Kreis um Sartre geführten Diskussionen über den Terror des Stalinismus konfrontierten ihn ständig neu mit der Frage nach dem Verhältnis von Ziel und Mitteln des politischen Handelns, genauer gesagt: mit dem Problem des Mordes in der Politik. Dass er nicht nur empört war, dass er keineswegs politisch resignierte und abstinent wurde, dass er vielmehr mit der großen philosophischen Tradition Politik als theoretische und praktische Herausforderung verstand, beweist das Werk L’Homme révolté.

Ibid., S.70-71

Orelie: In diesem lehnt Albert Camus die Revolution entschieden ab.

Heinz Robert Schlette: Camus hat unterschieden zwischen dem Menschen der Revolte und dem Revolutionär. Die Revolte bedeutet die kompromisslose Option zugunsten der konkreten menschlichen Befreiung und Gerechtigkeit. Wie Camus die Mentalität dieser Revolte verstanden hat, scheint mir aus folgendem Satz hervorzugehen; „Ich habe die Freiheit nicht bei Marx kennengelernt… Ich habe sie im Elend gelernt.”

Ibid., S.72

Orelie: Camus hat in seiner Kindheit und Jugend selbst erlebt, was Armut ist.

Heinz Robert Schlette: Auf Grund seiner Herkunft aus dem Landarbeitermilieu Algeriens und seiner Kenntnis der miserablen Lebensbedingungen der kabylischen Araber hat Camus jene Haltung niemals aufgegeben, die man mit dem von Marcuse in Umlauf gebrachten Begriff der „Sensibilität” bezeichnen könnte, eine Sensibilität für die Armen, Ungebildeten, Unterprivilegierten. Der Revolutionär dagegen, so sieht es Camus, schreitet über das einzelne und die einzelnen hinweg, um sein Totalkonzept zu verwirklichen; er ist grundsätzlich bereit, zur Erreichung seiner Ziele Gewalt einzusetzen. Camus sieht in diesem Rigorismus den politischen Ausdruck eines Absolutheits- Totalwissens. Diesem verwegenen Griff nach dem Ganzen steht auf der spekulativen Ebene Camus’ Erfahrung des Nichtwissens entgegen, auf der Ebene der Praxis die empirische Kenntnis des Elends, das nach sofortiger Linderung verlangt.

Ibid., S.72-73

Orelie: Was gilt es hierbei in der Praxis konkret zu verwirklichen?

Heinz Robert Schlette: Camus tritt für eine sozialistisch-syndikalistische Demokratie ein, die auf der Basis der Anerkennung von Rechten und Ansprüchen eines jeden Individuums steht, dies allerdings nicht nur formal und abstrakt, sondern als Verpflichtung zur permanenten Korrektur der realen Verhältnisse.

Ibid., S.73-74

Orelie: Was ist daher hinsichtlich der Frage nach dem Geschichtsverständnis bei Camus festzuhalten?

Heinz Robert Schlette: Dennoch scheint es für Camus Hoffnung und Geschichte zu geben, auf eine nüchterne, desillusionierte Weise: Er vermag zu hoffen auf die Kraft des Protests, auf die Evidenz der Empörung, auf die Macht der praktischen Vernunft und des Ausgleichs, auf die Chance, das Elend zu vermindern. Jene helle Seite der Wirklichkeit, welche die Absurdität gerade dadurch hervortreten lässt, dass ohne sie der Nihilismus triumphieren müsste, ermutigt Camus zu seiner sehr klarsichtigen Hoffnung, die man eher als skeptische denn als zuversichtliche Hoffnung bezeichnen könnte, die aber dennoch eine Hoffnung ist, die – wenn auch diskret und eben nicht spektakulär – zum humanen Dasein und Handeln befähigt.

Ibid., S.80-81

Orelie: Kommen wir noch auf die Frage nach einer den Menschen gemeinsamen Natur zu sprechen, die Camus die Revolte befürworten lässt.

Heinz Robert Schlette: Er schreibt gegen Ende seines Hauptwerks Der Mensch in der Revolte: „Indem die Revolte den Glauben an eine allen Menschen gemeinsame Natur herbeiführen will, zieht sie das Maß und die Grenze ans Licht, die am Ursprung dieser Natur stehen.” Es versteht sich von selbst, dass Sartre den Rekurs auf die Natur als Rückfall in antiquiertes Denken ansehen musste. Camus versteht das Wort für das, was immer schon ist, als das Vorgegebene, das uns seine Regeln aufdrängen möchte. Wie dieses Vorgegebene metaphysisch zu begründen und ob ihm eine künftige Erfüllung zuzutrauen ist, darüber lässt sich nach Camus nichts ermitteln. Deswegen bedarf es einer einsichtigen Zustimmung, um die vorgegebene Natur vermittels der Revolte geschichtlich-politisch zur Geltung bringen zu können. Ein Verständnis von Geschichte jedoch, die über die Grenzen der Natur, die Grenzen der Sterblichen hinausschreiten könnte in ein künftiges Noch-nicht-Gewesenes als in eine vollkommene Zukunft, weist Camus entschieden zurück.

Ibid., S.79-80

Orelie: Welche Hoffnung bleibt Albert Camus?

Heinz Robert Schlette: Er vermag zu hoffen auf die Kraft des Protestes, auf die Evidenz der Empörung, auf die Macht der praktischen Vernunft und des Ausgleichs, auf die Chance, das Elend zu vermindern.

Ibid., S.81

Orelie: Herr Heinz Robert Schlette, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.