Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Tennessee Willams – Memoiren

tennessee

Orelie: Guten Tag, Herr Tennessee Williams. Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Gespräch, in dem wir uns über Ihre Memoiren unterhalten wollen. Was können Sie als erstes dazu sagen?

Tennessee Williams: Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mit der Abfassung dieser Memoiren aus finanziellen Gründen begonnen habe. Doch ich möchte Ihnen ebenfalls sagen, dass ich, kurz nachdem ich mich an die Arbeit gemacht hatte, die geschäftliche Seite des Unternehmens vergaß und mich mit wachsendem Vergnügen von dieser neuen Form der vorbehaltlosen Selbstenthüllung gefangennehmen ließ.

Tennessee Williams, Memoiren, Fischer Verlag, Frankfurt/M, September 1979, S.10

Orelie: Diese Selbstenthüllungen betreffen nicht nur Sie selbst, sondern auch andere Menschen, wie Ihre Schwester Rose, die Ihnen schon in Ihrer Kindheit sehr nahe stand. Wie erlebten Sie die Zeit, als schizophrene Anzeichen bei Rose unübersehbar waren?

Tennessee Williams: Ich weiß noch, wie sie durch die Wohnung irrte und dann in mein kleines Zimmer kam und sagte: „Lass uns doch alle zusammen sterben.” Es ist nicht sehr erfreulich, an diese Zeit zurückzudenken. Nicht nur, dass Rose wusste, dass sie den Verstand zu verlieren drohte – erschwerend hinzu kommt, dass ich es gerade damals an Güte und Freundlichkeit meiner Schwester gegenüber fehlen ließ. Mein intensiver Umgang mit meinen neuen Freunden nahm mich in einem Maße in Anspruch, dass ich es versäumte, dem Schatten, der sich über Rose senkte, die nötige Beachtung zu schenken. In ihrem Benehmen begannen sich nun kleine Wunderlichkeiten bemerkbar zu machen. Sie war sehr still geworden; ich glaube, sie litt an Schlaflosigkeit und hatte die sonderbare Gewohnheit angenommen, jeden Abend, bevor sie zu Bett ging, einen Krug mit Eiswasser vor ihre Tür zu stellen.

Memoiren, S.58 und 158

Orelie: An Ihrer Schwester wurde einige Jahre später eine Lobotomie vorgenommen, und Sie machten Ihren Eltern Vorwürfe, weil sie ihre Zustimmung dazu gegeben haben.

Tennessee Williams: Ich betrachte diesen Eingriff als tragisch verfehlt, da ich glaube, dass Rose ohne diese Operation hätte gesunden und zu dem, was man ein „normales Leben” nennt, zurückkehren können, das, trotz seiner vielen Angriffe auf die verletzliche Menschennatur, dem Anstaltsleben immer noch vorzuziehen ist.

Memoiren, S.314

Orelie: Mehrere der psychiatrischen Kliniken, in denen Ihre Schwester untergebracht wurde, entsprachen nicht Ihren Ansprüchen. Waren Sie froh, Stoney Lodge zu finden?

Tennessee Williams: Stoney Lodge in Ossining. Diese auf einem Steilufer mit Blick über den Oberlauf des Hudson erbaute Anstalt ist wunderschön gelegen, das dazugehörige Gelände gartenarchitektonisch höchst reizvoll gestaltet, und Rose hat ein hübsches Zimmer für sich allein, mit Blumentapete. Unter allem, was ich aus meinem Leben gemacht habe, dürfte Roses Unterbringung in Stoney Lodge an erster Stelle stehen – neben einigen gelungenen Arbeiten.

Memoiren, S.164

Orelie: Sie sagten, dass es Ihnen ein paarmal an Feinfühligkeit und Nachsicht gegenüber Rose gefehlt hat. In Ihren Memoiren machen Sie hierfür auch Ihre Schüchternheit verantwortlich.

Tennessee Williams: Heute wissen nur wenige Menschen, dass ich schon immer außerordentlich schüchtern war und es auch jetzt noch, als „altes Fossil”, bin. Als „Fossil” kompensiere ich meine Schüchternheit mit der typisch Williamsschen Herzhaftigkeit und herausforderndem Benehmen, zuweilen auch mit explosiven Wutausbrüchen. In meinen High School-Tagen stand mir diese Fassade noch nicht zur Verfügung – ich musste ohne Maske leben, und ebenfals in der University City High School begann folgende Heimsuchung: ich errötete, sobald mir jemand in die Augen sah.

Memoiren, S.31

Orelie: In Ihrem Lebensgefährten Frank Merlo fanden Sie einen wichtigen Halt in Ihrem Leben, obwohl Sie zunächst vor einer dauerhaften Bindung zurückschreckten.

Tennessee Williams: Ich war zu sehr an meine Freiheit gewöhnt. Ich fuhr nach St. Louis, um Mutter zu besuchen. Und dort, unter dem mütterlichen Dach, wurde mir unmissverständlich klar, dass mein Herz, schon allzulange der Flüchtigkeit preisgegeben, bei dem jungen Sizilianer endlich eine Heimstatt gefunden hatte. Ich schickte ihm aus St. Louis ein Telegramm: „Ankomme morgen New York. Bitte warte in Wohnung auf mich.” Als ich nach Mitternacht meine Wohnung betrat, schien niemand da zu sein – von Frankie keine Spur, und ich kam mir völlig verlassen vor. Doch dieses Gefühl hielt nur so lange an, bis ich die Tür des Wassermann-Schlafzimmers öffnete. Dort auf dem riesigen Bett lag der kleine Frankie; er schlief. So begann also eine Beziehung, die vierzehn Jahre andauern sollte.

Memoiren, S.198

Orelie: Bei Frank wurde Lungenkrebs, der nicht mehr operierbar war, festgestellt. Sie waren bei ihm in dem Memorial-Hospital in New York.

Tennessee Williams: Ich saß an seinem Bett und hielt seine Hand, bis ein Pfleger mich darauf aufmerksam machte, dass meine Besuchszeit vorüber sei. Danach besuchte ich ihn jeden Tag, bis er entlassen wurde. Kurz vor seiner Entlassung oder möglicherweise auch kurz nach der Operation rief ich seine Ärzte an, die mir sagten, dass Frankies Lungenkrebs inoperabel sei. Die Wucherung säße dicht am Herzen und sei so vorgeschritten, dass eine erfolgreiche Operation sich ausschlösse. „Wie lange?” fragte ich. Die Antwort lautete: „Sechs Monate.” Ich legte auf und brach in Tränen aus.

Memoiren, S.239

Orelie: In den Monaten vor seinem Tod magerte Frank drastisch ab und wurde von Tag zu Tag schwächer. Nachdem er in dem Memorial-Hospital, das er ständig aufsuchen musste, in ein Einzelzimmer verlegt wurde, wussten Sie, dass er an einem der kommenden Tage sterben würde. Wie haben Sie diese Zeit in Ihrer Erinnerung aufbewahrt?

Tennessee Williams: Es macht mich traurig, mir die letzten Erinnerungen an den lebenden Frankie ins Gedächtnis zurückzurufen. Und doch enthalten sie so manches, was des bewundernden Erinnerns wert ist, wie etwa seine Seelenstärke und sein bis zuletzt ungebrochener Stolz. Dann ging Frankie ein letztes Mal ins Memorial-Hospital. Als er sich anzog, betrat ich das Schlafzimmer, um ihm behilflich zu sein, doch er lehnte jede Hilfe ab. Er warf seinen Morgenrock ab – sein Körper, vormals der eines kleinen Herkules, glich nun eher dem Skelett eines Sperlings. Als wir die Halle des Krankenhauses betraten, war er zum erstenmal zu schwach, seine Station zu Fuß aufzusuchen, und ließ sich in einen Rollstuhl setzen. Es war Frankies bester Freund, der mir auf sehr menschliche Weise mitteilte, dass Frankie gestorben sei. Meine erste Reaktion ist heute schwer zu analysieren. Am ehesten war es wohl Erleichterung darüber, dass unser beider Qualen ein Ende gefunden hatten. Die seinen, ja. Meine nicht. Ich stand an der Schwelle eines schrecklichen Lebensabschnittes. Solange Frankie gesund war, war ich glücklich. Er hatte das Talent zum Leben, und als er tot war, gelang mir die Gestaltung meines eigenen Lebens nicht mehr. Und dann kam die Depression, die sieben lange Jahre anhielt.

Memoiren, S.243-245

Orelie: Kommen wir noch auf Anna Magnani zu sprechen, mit der Sie eine enge und aufrichtige Freundschaft verband.

Tennessee Williams: Ich habe mich oft gefragt, wie sie es schaffte, in der Gesellschaft zu leben, ohne sich deren Konventionen zu beugen. Ich kann nur so viel sagen, dass ich an ihr niemals ein Zeichen mangelnder Selbstsicherheit festgestellt habe, noch die leiseste Unsicherheit in ihrer Beziehung zu jener Gesellschaft, über deren Konventionen sie sich ihr ganzes Leben lang und in aller Öffentlichkeit hinweggesetzt hat. Sie sah jedem, mit dem sie zu tun hatte, gerade in die Augen, und während der goldenen Jahre, in denen uns eine herzliche Freundschaft verband, habe ich nie ein unwahres Wort aus ihrem Mund vernommen.

Memoiren, S.206

Orelie: Sie sagen, dass Anna Magnani stolz darauf war, sich über Konventionen einfach hinwegzusetzen, und wie stehen Sie zu dieser Lebensweise, die ja auch die Ihre betrifft?

Tennessee Williams: Sie stand so sehr außerhalb jeder Konvention wie niemand sonst, den ich in meinem Leben gekannt habe, und ich nehme an, das war es, was uns so fest verband. In dieser Unbürgerlichkeit wurzelte wohl auch ihre stolze Selbstsicherheit, bei mir hingegen ist sie die Ursache meiner Unsicherheit und des Schuldgefühls, das mein Leben für immer überschattet.

Memoiren, S.209

Orelie: Herr Tennessee Williams, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.