Orelie: Guten Tag, Herr Heinrich Böll. Ihr Roman Ansichten eines Clowns ist eine Ich-Erzählung, aber es wäre falsch, den Clown mit Ihnen zu identifizieren. Doch können wir bei unserem Gespräch das Ich gerne beibehalten, das für einen Menschen steht, der in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebte. Was können Sie über diese Person sagen?
Heinrich Böll: Ich bin ein Clown, offizielle Berufsbezeichnung: Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig, siebenundzwanzig Jahre alt. Ich selbst bin nicht religiös, nicht einmal kirchlich, und bediene mich der liturgischen Texte und Melodien aus therapeutischen Gründen: sie helfen mir am besten über die beiden Leiden hinweg, mit denen ich von Natur belastet bin: Melancholie und Kopfschmerz.
Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1997, S.8-9
Orelie: Hans Schnier, das ist der Name des Clowns, lebt mit Marie, einer frommen Katholikin zusammen, ohne dass sie standesamtlich oder kirchlich getraut sind. Es kommt zu Spannungen zwischen den beiden, als nach fünf Jahren Marie ihm erklärt, ihre Kinder katholisch erziehen zu wollen. Hans nennt es ihren metaphysischen Schrecken. Was hat es mit diesem auf sich?
Heinrich Böll: Ihr metaphysischer Schrecken bezog sich einzig und allein auf meine Weigerung, uns standesamtlich trauen, unsere Kinder katholisch erziehen zu lassen. Wir hatten noch gar keine Kinder, sprachen aber dauernd darüber, wie wir sie anziehen, wie wir mit ihnen sprechen, wie wir sie erziehen wollten, und wir waren uns in allen Punkten einig, bis auf die katholische Erziehung. Ich war einverstanden, sie taufen zu lassen. Marie sagte, ich müsse es schriftlich geben, sonst würden wir nicht kirchlich getraut. Als ich mich mit der kirchlichen Trauung einverstanden erklärte, stellte sich heraus, dass wir auch standesamtlich getraut werden mussten – und da verlor ich die Geduld, und ich sagte, wir sollten doch noch etwas warten, jetzt käme es ja wohl auf ein Jahr nicht mehr an, und sie weinte und sagte, ich verstünde eben nicht, was es für sie bedeute, in diesem Zustand zu leben und ohne die Aussicht, dass unsere Kinder christlich erzogen würden.
Ansichten eines Clowns, S.78
Orelie: Marie verlässt Hans, der nach ihr sucht und dem es schwer fällt, mit dem Gesichtstraining eines Clowns weiterzumachen. Worin sieht er die Ursache dieser Schwierigkeit?
Heinrich Böll: Ich ging immer, wenn ich vom Training kam, ganz nah an Marie heran, bis ich mich in ihren Augen sah: winzig, ein bisschen verzerrt, doch erkennbar: das war ich und war doch derselbe, vor dem ich im Spiegel Angst hatte. Ich trainierte nicht. Es war niemand da, der mich aus dem Spiegel zurückgeholt hätte.
Ansichten eines Clowns, S.157
Orelie: Marie heiratet einen Katholiken, und Hans kann seiner Arbeit als Clown nicht mehr nachgehen. Er hat bald kein Geld mehr und so hofft er auf Freunde, seinen Bruder, der Priester geworden ist, seinen Großvater, seinen Vater und dessen Geliebte. Er will sogar ihm bekannte Menschen, die in der Adenauer-Ära ihre Nazi-Vergangenheit einfach abwarfen, um Geld bitten. Aber er schafft es nicht, Geld zu bekommen und was wird aus ihm?
Heinrich Böll: Das Kissen unter den linken, die Gitarre unter den rechten Arm geklemmt, ging ich zum Bahnhof zurück. Ich legte mein Kissen auf die dritte Stufe von unten, setzte mich hin, nahm den Hut ab und legte die Zigarette hinein, nicht genau in die Mitte, nicht an den Rand, so, als wäre sie von oben geworfen worden, und fing an zu singen: „Der arme Papst Johannes”, niemand achtete auf mich, das wäre auch nicht gut gewesen: nach einer, nach zwei, drei Stunden würden sie schon anfangen, aufmerksam zu werden. Ich erschrak, als die erste Münze in meinen Hut fiel: es war ein Groschen, er traf die Zigarette, verschob sie zu sehr an den Rand. Ich legte sie wieder richtig hin und sang weiter.
Ansichten eines Clowns, S.275
Orelie: Heute ist Ihr Roman, der 1963 erschien, als eine satirische Erzählung der Adenauer-Ära anerkannt. Und in Ihrem Nachwort zu der Auflage aus dem Jahr 1985, schreiben Sie, dass es für die damaligen jungen Leute nicht zu verstehen sei, wieso Ihr Buch eine solche Aufregung verursachte. Was war Ihr Anliegen, als Sie es schrieben?
Heinrich Böll: Lernen können sie an diesem Buch, wie rasch in unseren Zeiten ein Roman zum historischen Roman wird; lernen auch – und das wäre möglicherweise das einzig zeitlose an diesem Roman-, wie Verbandsdenken sich anmaßt, im Namen ganzer Bevölkerungsgruppen zu sprechen, zu urteilen. In diesem Falle geht es um die uralte, bis heute ungeklärte Frage, wie repräsentativ katholische Verbände, Organisationen und ihre publizistischen Organe für die immerhin erhebliche statistische Masse von ungefähr 26 Millionen deutscher Katholiken sind. Wer spricht da in wessen Namen, wer ist der Wortführer für wen? Sollte irgendwann einmal jemand in einer ausführlichen Schrift das kulturelle Defizit des Verbandskatholizismus analysieren, er müsste die mühsame Arbeit auf sich nehmen, eine hundertjährige Rückentwicklung darzustellen und an Beispielen zu erläutern. Dieses harmlose Buch hier führte bei den Wortführern der militant-apologetischen Minderheit, die sich anmaßt, für alle deutschen Katholiken zu sprechen, zu Reaktionen, die bis zum Boykott führten.
Ansichten eines Clowns, S.277-279
Orelie: Wir können sagen, dass Sie mit Ansichten eines Clowns zu gutem Recht für mehr Freiheit im deutschen Katholizismus plädierten? Und wie sehen Sie mittlerweile den Verbandskatholizismus?
Heinrich Böll: Der Anspruch, dass nur Kirche oder Staat, meistens beide gemeinsam, bestimmen dürfen, was eine Ehe ist, wird angezweifelt. Es müssen, wenn man vom deutschen Katholizismus spricht, vier Kategorien voneinander unterschieden werden: der Verbandskatholizismus, in dem es auch zu bröckeln beginnt, etwa innerhalb der organisierten katholischen Jugend, die Amtskirche, die deutschen Katholiken und die katholische Theologie, die das kulturelle Defizit längst aufgeholt hat.
Ansichten eines Clowns, S.280-282
Orelie: Herr Böll, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.