Orelie: Guten Tag, Herr Albert Camus und Herr Jean-Paul Sartre. Ich freue mich, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir uns über grundlegende Unterschiede Ihrer beider Standpunkte unterhalten wollen. Aber zuerst sollten wir feststellen, ob es eine Erfahrung gibt, die Sie besonders geprägt hat?
Jean-Paul Sartre: Die Erfahrung des Krieges war für mich, wie für alle, die daran teilgenommen haben, die Erfahrung des Heldentums. Natürlich nicht meines eigenen Heldentums – ich habe nur einige Koffer getragen. Aber der Widerstandskämpfer, der gefangengenommen und gefoltert wurde, war für uns zum Mythos geworden. Würden auch wir Folterungen aushalten und schweigen? Es ging damals allein um die Frage der physischen Ausdauer, nicht aber um die List der Geschichte oder die Fallen der Entfremdung.
Jean-Paul Sartre, Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1985, S.145
Orelie: Herr Camus, stimmen Sie mit Sartre in dieser Erfahrung überein?
Albert Camus: Inmitten der Trümmer und der Verzweiflung sind Männer aufgestanden und haben voll Ruhe versichert, dass nichts verloren sei. Sie haben gesagt, es müsse weitergemacht werden und die Kräfte des Guten könnten immer über die Kräfte des Bösen siegen, wenn man den Preis zu zahlen gewillt sei. Sie haben den Preis gezahlt. Und zweifellos war er hoch, er besaß das ganze Gewicht des Blutes, die entsetzliche Last der Gefängnisse. Nichts wird den Menschen geschenkt, und das Wenige, das sie erobern können, muss mit ungerechtem Sterben bezahlt werden. Aber nicht darin liegt die Größe des Menschen. Sondern in seinem Willen, stärker zu sein, als die conditio humana. Und wenn die conditio humana ungerecht ist, hat er nur eine Möglichkeit sie zu überwinden: indem er selber gerecht ist.
Albert Camus, Fragen der Zeit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.37-38
Orelie: Und welches Gewicht hat hierbei die menschliche Freiheit?
Albert Camus: Wenn die Gerechtigkeit nicht verwirklicht wird, bewahrt die Freiheit das Vermögen, gegen die Ungerechtigkeit zu protestieren, und rettet so die Gemeinschaft.
Albert Camus, Tagebücher 1935-1951, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.305
Orelie: Dagegen trat bei Ihnen, Herr Sartre, die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen immer stärker in den Vordergrund.
Jean-Paul Sartre: Nach dem Krieg kam dann die echte Erfahrung: die Erfahrung der Gesellschaft. Ich glaube allerdings, dass für mich der Mythos des Heldentums eine notwendige Etappe war. Das heißt, der egoistische Vorkriegsindividualist musste gegen seinen Willen in die geschichtliche Wirklichkeit gestoßen werden, gleichzeitig aber gerade noch ja oder nein sagen können, damit er dann an die unentwirrbaren Probleme der Nachkriegszeit als jemand herangehen konnte, der ausschließlich durch seine gesellschaftliche Existenz bedingt ist, aber immer noch genügend Entscheidungsmöglichkeiten hat, um dieses Bedingtsein auf sich nehmen und dafür verantwortlich sein zu können. Denn ich habe niemals aufgehört zu zeigen, dass jeder letztlich dafür verantwortlich ist, was man aus ihm macht.
Sartre über Sartre, S.145
Orelie: Ja, und diese Einschätzung der menschlichen Existenz führte Sie zum Marxismus und zum Klassenkampf. Zwar sind Sie nicht in die kommunistische Partei eingetreten, aber Sie nahmen an politischen Kämpfen teil und unterstützten solche mit Worten und dabei befürworteten Sie die Revolution.
Jean-Paul Sartre: Als ich den Klassenkampf entdeckte, war das eine echte Entdeckung, von deren Wahrheit ich noch heute zutiefst überzeugt bin, und zwar glaube ich an sie genau in der Form, in der Marx sie beschrieben hat. Die Zeit hat sich geändert, aber es ist immer noch derselbe Kampf derselben Klassen auf demselben Weg zum Sieg. Die Hoffnung auf eine baldige und vollständige Befreiung ist utopisch. Wir können also schon verschiedene Grenzen und Einschränkungen einer zukünftigen Revolution voraussehen; aber wer das als Entschuldigung dafür nimmt, dass er heute nicht für die Revolution kämpft, der ist ganz einfach ein Konterrevolutionär.
Sartre über Sartre, S.149,163
Orelie: Hier findet sich der Ansatz für die Entzweiung zwischen Ihnen und Herrn Albert Camus. Was haben Sie, Herr Camus, zur Revolution zu sagen?
Albert Camus Die Gedanken, die vorgeben, unsere Welt im Namen der Revolution zu leiten, sind in Wirklichkeit eine Ideologie der Zustimmung, nicht der Auflehnung geworden. Die zeitgenössische Revolution, die behauptet, jeden Wert zu leugnen, ist in sich schon ein Werturteil. Durch sie will der Mensch herrschen. Die Zukunft kann man nicht vorhersehen, und es kann sein, dass eine Renaissance unmöglich ist. Obwohl die geschichtliche Dialektik falsch und verbrecherisch ist, kann sich die Welt letzten Endes im Verbrechen, nach einer falschen Idee, verwirklichen. Bloß wird diese Art Resignation hier abgelehnt: man muss auf die Renaissance setzen.
Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2006, S.278-280
Orelie:Im Gegensatz zur Revolution verteidigen Sie die Revolte. In Ihrem bekannten Buch Der Mensch in der Revolte, nach dessen Erscheinen es zum Bruch zwischen Ihnen und Herrn Jean-Paul Sartre kam, legen Sie klar, was unter der Revolte zu verstehen ist. Können Sie mit ein paar Sätzen das Wesentliche hierzu sagen?
Albert Camus: Die Bejahung einer Grenze, einer Würde und einer den Menschen gemeinsamen Schönheit zieht nur die Notwendigkeit nach sich, diesen Wert auf alle und alles auszudehnen und auf die Einheit zuzugehen, ohne die Ursprünge zu verleugnen. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität.
Der Mensch in der Revolte, S.282-283
Orelie: Trotz dieser grundlegenden Unterschiede wird die menschliche Verantwortung von Ihnen beiden hervorgehoben und befürwortet, und ich finde es schade, dass Sie diesen Gedanken nicht gemeinsam weiterentwickelt haben.
Albert Camus: Zwei Beobachtungen stützen diesen Gedanken. Zunächst wird man festhalten, dass die Bewegung der Revolte ihrem Wesen nach nicht egoistisch ist. Das Individuum stellt demnach nicht an sich den Wert dar, den es verteidigen will. In der Revolte übersteigert sich der Mensch im andern, von diesem Gesichtspunkt aus ist die menschliche Solidarität eine metaphysische.
Der Mensch in der Revolte, S.24-25
Jean-Paul Sartre: In Der Existenzialismus ist ein Humanismus erkläre ich, wie jede Entscheidung eines Menschen, und zwar im engsten wie im weitesten Sinne des Wortes, einen Gesetzgeber aus ihm macht, der für die gesamte Menschheit entscheidet. Daher muss er ein tiefes und umfassendes Verantwortungsgefühl haben.
Sartre über Sartre, S.131