Orelie: Guten Tag, ich begrüße Sie herzlich Herr Reich-Ranicki. Wir wollen gemeinsam über den Schriftsteller Heinrich Böll sprechen, dem Sie des öfteren persönlich begegnet sind und in Ihrem Buch Entgegnung – Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre ein ganzes Kapitel widmen. Ende des Jahrs 1956, zu der Zeit lebten Sie noch in Polen, lud der polnische Schriftstellerverein Heinrich Böll zu einem großen Empfang ein. Aber von den zahlreich geladenen Schriftstellern kam so gut wie niemand. Warum?
Marcel Reich-Ranicki: Etwa fünfzig Autoren wurden eingeladen. Als man ihnen sagte, Böll sei den ganzen Krieg über ein gewöhnlicher deutscher Soldat gewesen, nicht mehr und nicht weniger – da winkten sie wortlos ab. Kaum elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten polnische Schriftsteller kein Bedürfnis, einen Deutschen willkommen zu heißen.
Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Pantheon Verlag, München, Januar 2012, S.363-364
Orelie: Bei den wenigen Personen, die kamen und zu denen auch Sie gehörten, hinterließ Böll etwas, das sie alle beeindruckte. Was berührte die Teilnehmer?
Marcel Reich-Ranicki: Hier sprach ein Schriftsteller aus der in Polen als revanchistisch verrufenen Bundesrepublik gleichsam in einem Atem von deutscher Literatur und von deutscher Schuld – und jeder seiner eher schlichten und bisweilen linkischen Sätze wirkte überzeugend. Sofort gewann dieser unfeierliche Gast die Sympathie der Menschen, zu denen er sprach: Er wollte niemandem etwas vormachen. Wir spürten, dass dieser deutsche Schriftsteller, der sechs Jahre lang die Uniform der Wehrmacht getragen hatte, begnadet war – begnadet mit einem Charisma, das sich, wie oft in solchen Fällen, der Beschreibung entzieht.
Mein Leben, S.364
Orelie: Können Sie dieses Charisma, mit dem Bölls späterer internationaler Erfolg zusammenhängt, dennoch näher beschreiben?
Marcel Reich-Ranicki: Autorität und Leichtsinn – das reimt sich natürlich nicht. Doch heutzutage, scheint es, sind Prediger nur noch erträglich, wenn sie sich zugleich als Spaßmacher bewähren. Damit hängt wohl Bölls Erfolg zusammen und auch sein internationaler Ruhm. Denn er hat der Welt zu bieten, was sie nach wie vor, bewusst oder unbewusst, von einem deutschen Schriftsteller erwartet und verlangt: Moral und Schuldbewusstsein. Indes verweigert er ihr, was man gemeinhin für deutsch hält: das Gründliche und das Feierliche.
Marcel Reich Ranicki, Entgegnung – Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1981, S.99
Orelie: Dennoch kritisierten Sie so manchen seiner Romane und waren bei Ihrer Kritik nicht zimperlich. Was werfen Sie Heinrich Böll eigentlich vor?
Marcel Reich-Ranicki: Immer schon liebte er volkstümlich-joviale Wendungen, die sehr sympathisch, aber oft ungenau waren. Dass sich Böll der Nachlässigkeit und der Oberflächlichkeit seiner Formulierungen mitunter bewusst ist, ergibt nichts, da er doch keine Lust hat, sie zu korrigieren.
Entgegnung, S.119
Orelie: Und was gefällt Ihnen trotz dieser Beanstandungen an Bölls Büchern?
Marcel Reich-Ranicki: Auch wenn Bölls Bücher höchst zwiespältige und fragwürdige literarische Produkte waren – und auf welchen seiner Romane treffen diese Attribute nicht zu? -, so bewiesen sie doch einen einzigartigen Blick, ein schlechthin phänomenales Gespür für jene Motive, Situationen und Stimmungen, in denen « das Aktuelle » wie von selbst zum Vorschein kommt und anschaulich wird. Böll hat von Anfang an gegen die Ungerechtigkeit, die Bosheit und Grausamkeit der Welt die Unschuld, die Reinheit oder ganz einfach die Anständigkeit seiner zentralen Figuren ausgespielt. Und meist wurde seine Anklage am deutlichsten in Liebesgeschichten.
Entgegnung, S.109-110
Orelie: Was können Sie zu Bölls Lesepublikum sagen?
Marcel Reich-Ranicki: Böll findet ein unmittelbares Echo bei nahezu allen Schichten. Manche Gegner sehen in ihm einen leider verlorenen Sohn, dessen Rückkehr in die eigenen Reihen sie für möglich, ja für opportun und wünschenswert halten. Jene wiederum, die Heinrich Böll lieben, fühlen sich verpflichtet, gelegentlich anzudeuten, dass ihnen ihre herzliche Zuneigung Gewissensbisse bereite: Viele seiner Freunde ziehen es vor, ihn nicht ganz ernst zu nehmen und sich von ihm schulterklopfend zu distanzieren. Die ihn zu bewundern bereit sind, meinen doch, Böll, dessen authentische Leiden immer so schön sichtbar sind, zugleich und in aller Öffentlichkeit bedauern zu müssen. Das gilt vor allem für die Zeit seit 1972. Denn seit er den Nobelpreis erhalten hat, muss der arme Böll zu allem anderen auch noch die Last des internationalen Ruhmes tragen.
Entgegnungen, S.116-117
Orelie: Möchten Sie diesem Gesagten noch etwas hinzufügen?
Marcel Reich-Ranicki: Heinrich Böll wurde beides in hohem Maße zuteil: der Lorbeer und die Dornen, der blendende Ruhm und sein unvermeidbarer und düsterer Schatten. Eher ein Schalk als ein Märtyrer, eher ein stiller Beobachter und schmulzender Zeitkritiker, und ohne dass er es wollte, war er eines Tages ein Praeceptor Germaniae. Freilich, einen solchen Lehrmeister hatte Deutschland noch nie. Denn Böll ist ein Anarchist und er denkt nicht daran, dies zu verheimlichen. Tatsächlich richtet sich seine Kritik gegen jede Form der institutionalisierten Machtausübung, gegen Staat und Militär, gegen Kirche und Schule. Er verteidigt die Verirrten – und kann sich dabei selber verirren. Er weigert sich, als « etablierter Aufpasser » zu fungieren. Doch wo er Verfolgung wittert, da ist er zur Stelle; und er verwaltet dieses Amt so leidenschaftlich, dass er, seine Gegner provozierend, bisweilen selber zu einem Verfolgten wird. Er macht Fehler, er gibt sich Blößen. Er ist oft unsicher und hilflos wie die Helden vieler seiner Romane und Erzählungen. Und so können sich Millionen seiner Leser nicht nur mit seinen Gestalten identifizieren, sondern auch mit ihm selber: Ein weltberühmter Autor und trotzdem und immer noch ein Bruder der kleinen Leute, einer von ihnen: ein Jedermann.
Entgegnungen, S.125,132-133