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Interview: Konrad Adenauer – Die NATO

Traube

Orelie: Guten Tag, Herr Konrad Adenauer, ich heiße Sie herzlich willkommen zu diesem Gespräch, in dem wir über einige Ihrer Erfahrungen die NATO betreffend sprechen wollen. Die NATO wurde 1949 gegründet und die BRD trat ihr 1955 bei. Sie waren zu der Zeit der deutsche Bundeskanzler, und die NATO war für Sie das Sicherheitssystem des Westens. Können Sie das genauer erklären?

Konrad Adenauer: Mit den Westverträgen waren wir gleichberechtigte, handlungsfähige, selbstverantwortliche Verbündete der freien Welt geworden. Allen Verwirrungen, Verzerrungen und Verlockungen durch das östliche Lager zum Trotz sahen wir in diesen Verträgen den Ausdruck unserer Zugehörigkeit zur freien Welt der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Fortschritts. Wenn es bisher noch nicht gelungen war, vielleicht auch fürs erste nicht gelingen konnte, die Sowjetunion von der Chance, die in den westlichen Verträgen auch für sie lag, zu überzeugen, so blieb dies eine Aufgabe der Zukunft. Wir mussten der Sowjetunion immer wieder dartun und beweisen, dass unser Programm der Vertragstreue zum Westen, der europäischen Integration, des Willens zur Verteidigung unserer Freiheit, der Teilnahme an einem Sicherheitssystem auf der Grundlage allgemeiner Abrüstung keine Bedrohung des russischen Volkes, sondern einen wirklichen Beitrag zur Entspannung bedeutete. Die Mitarbeit Deutschlands innerhalb der NATO, die Partnerschaft der Bundesrepublik mit dem freien Westen, die Schaffung eines vereinigten Europas auf dem Wege der Integration waren fundamentale Elemente der deutschen Außenpolitik.

Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955-1959, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1967, S.61-62

Orelie: Was hatten Sie zehn Jahre nach dem Gründungsdatum der NATO hinsichtlich des Westbündnisses zu sagen?

Konrad Adenauer: Nach meiner Meinung machten sich doch bei der NATO ganz allgemein Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Es sei naturgemäß schwer, ein Defensivbündnis in völliger Frische zehn Jahre am Leben zu erhalten und auch den Entwicklungen anzupassen. Ich hielte es für gut, wenn de Gaulle jetzt Vorschläge machen würde, wie man die NATO gestalten solle. Ich sei der Auffassung und zutiefst davon überzeugt, dass eine nationale Verteidigung nicht mehr möglich sei gegenüber der Sowjetunion, auch nicht eine Verteidigung durch die europäischen Länder allein ohne die Vereinigten Staaten.

Konrad Adenauer, Erinnerungen 1959-1963, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1978, S.19

Orelie: Was antwortete Charles de Gaulle auf Ihre Vorschläge?

Konrad Adenauer: Die Integration bedeute heute das rein amerikanische Kommando. Das habe zwei Nachteile. Erstens gebe man den Vereinigten Staaten alle Rechte für die Verteidigung Europas in die Hand, und dabei sei man nicht einmal sicher, ob Amerika Europa sofort verteidigen wolle. Der zweite Nachteil der Integration, wie sie jetzt praktiziert werde, liege darin, dass die Völker sich an der Landesverteidigung desinteressierten, weil sie gar nicht dafür verantwortlich seien.

Erinnerungen 1959-1963, S.63-64

Orelie: Und wie beurteilten Sie die NATO zu Beginn der sechziger Jahre?

Konrad Adenauer: Ich pflichtete de Gaulle vollkommen darin bei, dass Europa nicht in eine ausschließliche Abhängigkeit von Amerika geraten dürfe. Man müsse bei der Arbeit, die man in Angriff nehmen wolle, immer darauf achten, dass Amerika voll erkenne: Ein starkes Europa könne für Amerika nur gut sein.

Erinnerungen 1959-1963, S.65

Orelie: Was waren die Beweggründe die de Gaulle gegen die Integration der NATO anführte?

Konrad Adenauer De Gaulle wiederholte seine Überzeugung, dass die Integration allmählich und eventuell ziemlich rasch zwar nicht zur Abrüstung, wohl aber zur Schwächung führe. Wenn das französische Volk sehe und wisse, dass seine Streitkräfte in die Verfügungsgewalt eines anderen gegeben seien, werde man die größte Mühe haben, erforderliche Ausgaben und Einsparungen beim französischen Volk durchzusetzen. Das aber wäre eine schlechte Politik, schlecht auch im Hinblick auf das atlantische Bündnis. Deutschland habe nicht dieselben Beweggründe wie Frankreich, denn es befinde sich nicht in derselben Lage, weder geographisch noch strategisch noch politisch.

Erinnerungen 1959-1963, S.230

Orelie: Was versuchten Sie de Gaulle von Ihrem Standpunkt aus klarzumachen?

Konrad Adenauer Ich erwiderte, ich verstünde fast alle Beweggründe des Generals. Ich müsse jedoch eindeutig darauf hinweisen, dass jedes Auseinanderrücken in der NATO Chruschtschow stärke. Ich predigte meinen Leuten immer wieder, jede außenpolitische Handlung müsse in erster Linie unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, ob sie Russland stärke oder nicht.

Erinnerungen 1959-1963, S.229

Orelie: Im März 1966 erklärte Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle, dass Frankreich aus dem integrierten Militärkommando der NATO austrete. De Gaulle machte damit deutlich, dass er die Vorherrschaft der USA in diesem nicht mehr akzeptieren wollte. Allerdings blieb Frankreich weiter Mitglied der NATO und beteiligte sich an den Militäreinsätzen. Auch der Deutschlandbesuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Juni 1963 hatte nichts an den Ansichten des französischen Präsidenten ändern können. Nach Kennedys Besuch führten Sie ein Gespräch mit de Gaulle, in dem die unterschiedlichen Besorgnisse die NATO betreffend zur Sprache kamen. Können Sie davon berichten?

Konrad Adenauer: Kennedys Besorgnis hinsichtlich der Festigkeit der westeuropäischen Völker sei unverkennbar gewesen. Die Frage, was in Europa los sei, sei immer wiedergekehrt. Der Gesamteindruck, den ich von Kennedy hätte, sei gut. Dieser Eindruck habe sich im Laufe der Zeit herausgebildet. Hinsichtlich Frankreichs habe sich Kennedy des näheren über ihn, de Gaulle, ausgelassen, und ich müsse betonen, dass Kennedy ihn außerordentlich verehre. Kennedy sei aber von de Gaulles Entscheidung vom 21. Juni, die französischen Seestreitkräfte im Nordatlantik aus dem Oberbefehl der NATO herauszulösen, tief betroffen gewesen. Anschließend kam ich auf die Frage Europa zu sprechen; ob im Augenblick zur Stärkung des Zusammenhaltes von Europa etwas getan werden könne. Die politische Union hielte ich im Augenblick allerdings nicht für realisierbar. De Gaulle teilte diese Meinung und bemerkte, der Versuch sei ja bereits unternommen worden, und dabei hätte sich gezeigt, dass die Partner in Wirklichkeit einfach nicht wollten. Anschließend sprachen wir über die NATO. Für Frankreich, aber auch für Europa, sei es wirklich eine absolute Notwendigkeit, dass Frankreich sich wieder erhebe und wieder zu dem werde, was es einmal war, nämlich eine Macht. Damit es aber eine Macht werde, sei es unerlässlich, dass Frankreich das Gefühl habe, seine ihm eigenen nationalen und internationalen Verantwortungen zu tragen, ganz besonders aber seine Verteidigung selbst wahrzunehmen, selbstverständlich im Rahmen des Bündnisses. In dieser Hinsicht sei die NATO katastrophal, weil sie genau das zerstöre, was er eben die nationale Verantwortung genannt habe. Wenn er, de Gaulle, jetzt diese Armee den Amerikanern übergeben würde, dann werde es niemals mehr eine französische Armee geben. Frankreich könne darauf aber weder im Hinblick auf seine nationalen noch auf seine internationalen Verpflichtungen verzichten.

Erinnerungen 1959-1963, S.222,228-229

Orelie: Möchten Sie abschließend noch etwas dazusagen?

Konrad Adenauer: Noch ein Wort lassen Sie mich hinzufügen. Ohne die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschlanbd wäre weder die Schaffung der EWG noch eine politische europäische Union noch atlantische Bündnisse wie NATO möglich.

Erinnerungen 1959-1963, S.237

Orelie: Herr Konrad Adenauer, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.