Orelie: Ich begrüße Herrn Abbé Pierre und Herrn Albert Camus, zwei Menschen, die der Liebe eine große Bedeutung beimessen. Was kommt Ihnen, Herr Camus, dabei als erstes in den Sinn?
Albert Camus: Denn schon nach wenigen Schritten überwältigt uns der Duft der Wermutbüsche. Ihre graue Wolle bedeckt die Ruinen, so weit das Auge reicht. Ihr Saft gärt in der Hitze und verbreitet über das ganze Land einen Duftäther, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Wir gehen der Liebe und der Lust entgegen. Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor. Ich möchte hier nicht allein sein. Oft bin ich hierhergekommen mit denen, die ich liebte, und habe auf ihren Gesichtern das leuchtende Lächeln der Liebe gelesen.
Hochzeit des Lichts, Arche Literatur Verlag, Hamburg-Zürich, 2010, S.10-11
Orelie: So führt die Liebe Sie zum Mittelpunkt Ihres eigenen Lebens.
Albert Camus: Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: Ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Und doch hat man mich oft genug gefragt, worauf ich denn so stolz sei. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt mir, dass ich, geduldig wie eine schwierige Wissenschaft, die so viel wichtiger ist als all die Lebenskunst der andern, lerne: zu leben.
Hochzeit des Lichts, S.14-15
Orelie: Die Kunst, zu leben und deshalb zu lieben, ist für Sie so schwierig, weil Sie das Dasein in der Welt als absurd begreifen. Was können Sie, Abbé Pierre, hierzu sagen.
Abbé Pierre: Trotz der ganzen Absurdität spüre ich eine innere Gewissheit, die mich im Körper festhält, seitdem ich als junger Kapuzinermönch Gott im Gebet begegnet bin. Obwohl ich zittere und mein Verstand sich entrüstet, antworte ich aus einer tiefen Überzeugung des Herzens und des Glaubens heraus: „Unsere Aufgabe besteht darin, lieben zu lernen.”
Abbé Pierre, Mein Gott, warum?, dtv, München, 2007, S.19
Orelie: Können Sie uns erklären, was unter einer solchen Aufgabe zu verstehen ist?
Abbé Pierre: Zu lieben bedeutet, dass ich glücklich bin, wenn du, der andere, glücklich bist. Und wenn du, der andere, traurig bist und leidest, so leide auch ich. Es ist tatsächlich so einfach. Daher sage ich: „Wir bekommen im Leben die Zeit und die Freiheit geschenkt, um lieben zu lernen, und zwar aus der inneren Gewissheit heraus, dass wir gegen das Schlechte kämpfen müssen.”
Mein Gott, warum?, S.19-20
Orelie: Diese Liebe haben Sie ganz konkret gelebt und sie verwehrte Ihnen eine dauerhafte Beziehung mit einer Frau.
Abbé Pierre: Da mein Leben als Mönch vollkommen durch die Unterstützung der Mittellosen in Anspruch genommen wurde, war eine Liebesbeziehung nun einmal ausgeschlossen. Das Verlangen darf sich nicht verwurzeln. Ich bezeichnete diesen Zustand als freiwillige Unfreiheit. Das minderte allerdings keineswegs die Kraft des Verlangens, und es kam vor, dass ich ihm vorübergehend nachgegeben habe. Aber ich hatte nie eine richtige Beziehung, da ich nicht zuließ, dass sich das sexuelle Verlangen in mir verwurzelte. Dies hätte zu einer dauerhaften Beziehung mit einer Frau geführt, was jedoch nicht mit meiner Lebensentscheidung vereinbar gewesen wäre.
Mein Gott, warum?, S.32
Orelie: Wie stehen Sie zum Zölibat und der Heirat von Priestern?
Abbé Pierre: Ich persönlich hätte niemals tun können, was ich getan habe, wenn ich verheiratet gewesen wäre oder mich auf eine dauerhafte Liebesbeziehung eingelassen hätte. Meine Berufung erforderte eine ständige Verfügbarkeit. Aber ich bin davon überzeugt, dass es in der Kirche sowohl verheiratete Priester geben sollte als auch solche, die zölibatär leben.
Mein Gott, warum?, S.36
Orelie: Kommen wir wieder zu Ihnen, Herr Camus und so frage ich auch Sie nach dem Sinn der Liebe in der absurden Welt.
Albert Camus: Die Liebe in der absurden Welt erneuern heißt eigentlich, das brennendste und vergänglichste der menschlichen Gefühle erneuern. Aber über die dauerhafte Liebe auf dieser Erde und die der Dauer entbehrende kann kein Werturteil gefällt werden. Eine treue Liebe – sofern sie nicht verarmt – bietet dem Menschen ein Mittel, das Beste seiner selbst so weitgehend wie möglich zu bewahren. Dadurch erhält die Treue einen neuen Wert. Aber diese Liebe steht außerhalb des Ewigen. Sie ist ein durchaus menschliches Gefühl, mit allem, was dieser Ausdruck an Beschränkung und Überschwang in sich birgt. Deshalb verwirklicht der Mensch sich nur in der Liebe, weil sie ihm blitzartig das Bild seiner zukunftslosen Lage vor Augen führt.
Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951, Rowohlt Verlag, Juli 1997, S.254
Orelie: Auch ist die Liebe für Sie eng mit einer Landschaft oder Stadt, wie zum Beispiel Fiesole in der Toscana verbunden. Entspringt nicht aus einem solchen Dazugehörigkeitsgefühl heraus Ihre Liebe?
Albert Camus: Millionen Augenpaare haben diese Landschaft betrachtet, und mir kommt sie vor wie das erste Lächeln der Welt. Sie bringt mich im tieferen Sinne des Wortes außer mich. Sie versichert mir, dass außerhalb meiner Liebe alles nutzlos ist und dass sogar meine Liebe für mich keinen Wert besitzt, wenn sie nicht unschuldig und gegenstandslos ist.
Tagebücher 1935 – 1951, S.58
Orelie:Ich danke Ihnen beiden für dieses Gespräch.