Orelie: Guten Tag, Herr Charles de Gaulle, ich danke Ihnen, dass Sie zu diesem Gespräch gekommen sind, in dem wir über die NATO und Frankreich sprechen wollen. Zur Zeit Ihrer Präsidentschaft haben Sie gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer erstaunlich viel für die deutsch-französische Aussöhnung und die fortdauernde Freundschaft zwischen den beiden Ländern getan. Aber innerhalb der NATO konnte Frankreich nicht die gleiche Haltung wie die Bundesrepublik einnehmen. Wie sahen Sie die deutsche Situation sowie die anderer europäischer Staaten in diesem Sicherheitssystem?
Charles de Gaulle: Deutschland erblickte in einem solchen Protektoriat seine tägliche Rettung, denn es grenzte unmittelbar an die Totalitären, wurde von diesen ständig wegen seiner Untaten von gestern begeifert, der Vorbereitung neuen Unheils bezichtigt und lebte im Würgegriff der Angst vor der Einnahme Berlins. Die andern, die nicht unmittelbar bedroht waren, aber zu Recht meinten, auch über sie wäre das Urteil gefällt, sobald die Sowjets am Rhein und in den Alpen stünden, sahen die amerikanische Garantie als lebenswichtig an und würdigten außerdem dankbar die Einsparungen in ihrem Militärhaushalt, die ihnen durch die Verstärkung an Truppen, Schiffen, Flugzeugen und die Materialzuwendungen der Vereinigten Staaten ermöglicht wurde.
Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, Verlag Fritz Molden, Wien-München-Zürich, 1971, S.246
Orelie: Im Juni 1958 hatte die Nationalversammlung Ihnen das Vertrauen ausgesprochen und Sie bildeten eine neue Regierung. Drei Monate später besuchte der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer Sie in Colombey-les-Deux-Eglises, warum nicht in Paris?
Charles de Gaulle: In Colombey-les-Deux-Eglises empfange ich ihn am 14. und 15. September 1958. Ich meine diesem Treffen ein außergewöhnliches Gepräge geben zu sollen und halte für die historische Aussprache zwischen dem alten Franzosen und diesem sehr alten Deutschen den Rahmen eines Familienheims für sinnfälliger als die Kulisse eines Palastes.
Memoiren der Hoffnung, S.218
Orelie: In Ihren Gesprächen mit dem Bundeskanzler sprachen Sie auch über die NATO. Was teilten Sie Ihrem Gast mit?
Charles de Gaulle: Zum Atlantikpakt versichere ich meinem Gesprächspartner, wir Franzosen fänden es völlig natürlich, wenn die Bundesrepublik ihm rückhaltlos zustimme. Im Zeitalter der Atombomben und solange sie von den Sowjets bedroht werde, brauche sie ganz offensichtlich den Schutz der Vereinigten Staaten. Aber in dieser wie in anderen Fragen befinde sich Frankreich nicht in derselben Lage. Folglich werde es zwar weiterhin dem grundsätzlichen Bündnis angehören, das der Vertrag von Washington für den Fall einer Aggression vorsehe, früher oder später jedoch das System der NATO verlassen, zumal es eine Kernwaffenrüstung aufzubauen gedenke, auf die das Integrationsprinzip nicht angewandt werden könne.
Memoiren der Hoffnung, S.222
Orelie: Wie verliefen die Beziehungen zwischen Ihnen und dem deutschen Bundeskanzler in all den Jahren ihrer langen Freundschaft?
Charles de Gaulle: Unsere Beziehungen setzen sich im gleichen Rhythmus und mit der gleichen Herzlichkeit fort. Alles, was zwischen uns gesagt, geschrieben und verkündet wurde, war letztlich nichts anderes als Anpassung an die Gegebenheiten und Ausbau des 1958 geschlossenen Einverständnisses aufrichtigen Wollens. Gewiss tauchen mit den Umständen auch Meinungsverschiedenheiten auf, aber wir überwinden sie stets. Durch uns wächst das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland auf einer Grundlage und in einer Atmosphäre, die ihre Geschichte niemals zuvor gekannt hatte.
Charles de Gaulle: Unsere Beziehungen setzen sich im gleichen Rhythmus und mit der gleichen Herzlichkeit fort. Alles, was zwischen uns gesagt, geschrieben und verkündet wurde, war letztlich nichts anderes als Anpassung an die Gegebenheiten und Ausbau des 1958 geschlossenen Einverständnisses aufrichtigen Wollens. Gewiss tauchen mit den Umständen auch Meinungsverschiedenheiten auf, aber wir überwinden sie stets. Durch uns wächst das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland auf einer Grundlage und in einer Atmosphäre, die ihre Geschichte niemals zuvor gekannt hatte.
Memoiren der Hoffnung, S.225
Orelie: Seit Januar 1959 hatten Sie das Amt des französischen Staatspräsidenten inne. Die NATO bestand seit 1949, was hatte sich in diesen Jahren hinsichtlich der Sicherheit in Europa geändert?
Charles de Gaulle: Ich bin der Meinung, dass die allgemeine Lage 1958 anders aussieht als zur Zeit der Schaffung der NATO. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die Sowjets den Marsch zur Eroberung des Westens antreten, da hier unterdessen alle Staaten in den Normalzustand zurückgefunden haben und stetig materielle Fortschritte erzielen. Der Kommunismus, ob er nun im Innern entsteht oder von außen eindringt, kann sich nur im Schatten eines nationalen Unglücks einnisten. Der Kreml weiß das nur zu gut. Warum sollte er dreihundert Millionen unbotmäßigen Ausländern das totalitäre Joch überstülpen wollen, wenn er schon größte Mühe hat, es dreimal weniger Satelliten-Untertanen auf dem Nacken zu halten?
Memoiren der Hoffnung, S.246-247
Orelie: Schon im September 1958 hatten Sie an den amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und an den britischen Premierminister Harold Macmillan ein Memorandum geschickt, in dem Sie Frankreichs Stellung zur NATO zum Ausdruck brachten.
Charles de Gaulle: In einem persönlichen Memorandum an Präsident Eisenhower und Premierminister Macmillan ziehe ich unsere Zugehörigkeit zur NATO in Frage, die nach meinen Worten den Erfordernissen unserer Verteidigung nicht mehr entspricht. Ohne den Schutz Kontinentaleuropas durch die amerikanischen und britischen Bomben ausdrücklich zu bezweifeln, stellt mein Memorandum fest, eine echte Organisation kollektiver Verteidigung müsse sich über den ganzen Erdball erstrecken und dürfe nicht auf den nordatlantischen Sektor beschränkt sein, und der weltweite Charakter der Verantwortung und Sicherheit Frankreichs mache es notwendig, dass Paris an den politischen und strategischen Entscheidungen des Bündnisses unmittelbar teilhabe, die in Wirklichkeit von Amerika allein, mit exklusiver Konsultation Englands, gefällt werden. Der Zugang Frankreichs zu diesem Gipfel sei um so mehr angezeigt, als das westliche Atommonopol demnächst nicht mehr auf die Angelsachsen beschränkt sein werde, da wir uns solche Waffen beschaffen würden. Ich schlage daher vor, das Bündnis nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt zu lenken. Wie erwartet, antworten die beiden Adressaten ausweichend. Nichts hindert uns also am Handeln.
Memoiren der Hoffnung, S.248-249
Orelie: Im September 1959 kam Präsident Eisenhower zu einem Staatsbesuch nach Frankreich, bei dem ihre unterschiedlichen Gesichtspunkte der Ost-West-Beziehungen zur Sprache kamen und erörtert wurden. Was war Ihr Standpunkt?
Charles de Gaulle: Ich lege Eisenhower dar, dass man nach meiner Meinung die Beziehungen zwischen West und Ost nicht ausschließlich unter dem Gesichtswinkel der Rivalität zwischen Ideologien und Regimen behandeln dürfe. Gewiss wiege der Kommunismus in der gegenwärtigen internationalen Spannung sehr schwer. Ohne zu verkennen, dass eine technische Abmachung über die Rüstung zwischen Washington und Moskau die Dinge erleichtern könnte, sei ich doch der Meinung, dass sie keine wirkliche Lösung darstellen würde. Auch ein noch so spektakuläres Abkommen über gegenseitige Rücksichtnahmen, das die beiden Lager unter der Ägide ihres jeweiligen Protektors schlössen, wäre keine solche Lösung. Damit würden nämlich nur die Blöcke verewigt, deren bloße Existenz jeden echten Frieden ausschließe. Dagegen böte die Annäherung von europäischer Nation zu europäischer Nation, ausgehend von vollendeten Tatsachen und anfänglich auf Wirtschaft, Kultur, Technik und Fremdenverkehr beschränkt, eine Aussicht, den Eisernen Vorhang Stück um Stück zu durchschlagen, dem Wahnwitz des Wettrüstens nach und nach die Berechtigung zu entziehen, ja sogar die Totalitären Schritt für Schritt zu einer Lockerung ihres harten Zugriffs zu veranlassen.
Memoiren der Hoffnung, S.257-258
Orelie: Als der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow am 23. März 1960 in Orly ankam, um Frankreich einen längeren Besuch abzustatten, erklärten Sie ihm während ihrer gemeinsamen Gespräche die französische Haltung zu den Nuklearwaffen.
Charles de Gaulle: Ich lasse Chruschtschow wie vordem Eisenhower wissen, Frankreich, das unabhängig sein will, werde sich selbst nach Maßgabe seiner Mittel eine vollständige nukleare Rüstung geben. An eben diesem 1. April führen wir unseren zweiten Atomversuch in der Sahara durch. Der Bericht über die erfolgreiche Erprobung erreicht mich am Morgen in Rambouillet. Ich setze Nikita Chruschtschow davon in Kenntnis und füge hinzu, mir liege daran, dass er nicht aus der Presse zuerst davon erfahre.
Charles de Gaulle: Ich lasse Chruschtschow wie vordem Eisenhower wissen, Frankreich, das unabhängig sein will, werde sich selbst nach Maßgabe seiner Mittel eine vollständige nukleare Rüstung geben. An eben diesem 1. April führen wir unseren zweiten Atomversuch in der Sahara durch. Der Bericht über die erfolgreiche Erprobung erreicht mich am Morgen in Rambouillet. Ich setze Nikita Chruschtschow davon in Kenntnis und füge hinzu, mir liege daran, dass er nicht aus der Presse zuerst davon erfahre.
Memoiren der Hoffnung, S.278
Orelie: Am 20. Januar 1961 übernahm John F. Kennedy das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten und etwa vier Monate später, am 31. Mai kam er zu einem Besuch nach Paris. Was stellten Sie bei Ihren gemeinsamen Gesprächen fest?
Charles de Gaulle: Es zeigt sich, dass die Einstellung der Vereinigten Staaten zu Frankreich eine entscheidende Wandlung erfahren hat! Die Zeit ist lang vorbei, in der sich – von der traditionellen Freundschaft einmal abgesehen – Washington damit begnügte, Paris als einen unter vielen Schutzbefohlenen anzusehen. Jetzt haben sich die Amerikaner mit unserer Unabhängigkeit abgefunden und reden mit uns unmittelbar und gesondert. Trotzdem können sie sich nicht vorstellen, dass ihrem Vorgehen nicht mehr der Primat zukommen soll und wir unseren eigenen Weg gehen könnten.
Memoiren der Hoffnung, S.309
Orelie: So machten Sie Ihrem Gast trotz mancher seiner Zugeständnisse deutlich, dass sich Ihre Haltung zur NATO nicht verändert hat.
Charles de Gaulle: Im Grunde schlägt Kennedy mir vor, in jedem seiner Vorhaben eine Rolle zu übernehmen. Meine Antwort darauf lautet, Paris sei sicherlich zu einer engen Abstimmung mit Washington sehr bereit, aber was Frankreich tue, tue es aus eigenem Wollen.
Memoiren der Hoffnung, S.309
Orelie: Nach seinem Aufenthalt in Paris und Versailles traf John F. Kennedy den sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow in Wien. Hat er Sie von diesem Treffen unterrichtet?
Charles de Gaulle John Kennedy zeigt sich ziemlich unruhig über das, was zwischen ihm und Nikita Chruschtschow geschehen wird. „Ich gehe lediglich nach Wien”, sagt er mir, „um ihm eine Freundlichkeit zu erweisen, Kontakt aufzunehmen und Gedanken auszutauschen.”
Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, S.312
Orelie: Was antworteten Sie ihm darauf?
Charles de Gaulle Diese Zurückhaltung scheint mir weise. Ich sage das dem Präsidenten und fahre fort: „Da man sich nicht schlägt und der kalte Krieg sehr teuer ist, kann der Friede die Zukunft sein. Er lässt sich aber nur durch eine allgemeine und langanhaltende Entspannung ins Werk setzen. Diese verlangt jedoch das Gleichgewicht. Jede Störung dieses Gleichgewichts, vor allem im Zusammenhang mit Deutschland, könnte die Welt in höchste Gefahr bringen. Deshalb: Wenn Chruschtschow Sie morgen auffordern wird, den Status von Berlin zu ändern, das heißt, ihm die Stadt auszuliefern, bleiben Sie standhaft! Einen besseren Dienst können Sie der ganzen Welt, einschließlich Russlands, gar nicht leisten!”
Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, S.312-313
Orelie: Welchen Eindruck hinterließ Kennedy bei Ihnen, als er von Paris abreiste?
Charles de Gaulle Ich hatte mit einem Mann zu tun, dessen Format, dessen Alter, dessen gesunder Ehrgeiz ihm große Hoffnungen auf die Schultern laden. Er schien mir zu einem großen Höhenflug anzusetzen, so wie ein großer Vogel unter dem Anruf des Gipfels seine weiten Schwingen schlägt.”
Charles de Gaulle, Memoiren der Hoffnung, S.313