Berühmte Menschen, immer noch aktuell, kommen selbst zu Wort

Interview: Albert Camus – Der Künstler

Mer

Orelie: Guten Tag, Herr Albert Camus, seien Sie herzlich willkommen zu diesem Gespräch, für das ich als Thema Der Künstler gewählt habe. Und so frage ich Sie, worin besteht die Aufgabe für diesen?

Albert Camus: Der Künstler läuft Gefahr, wirklichkeitsfremd zu sein, wenn er in seinem Elfenbeinturm verharrt, oder unfruchtbar, wenn er unaufhörlich in der politischen Arena herumgaloppiert. Zwischen diesen beiden Haltungen liegen indessen die mühevollen Wege der wahrhaften Kunst. Mir scheint, der Schriftsteller müsse mit den Tragödien seiner Zeit vertraut sein und jedesmal Partei ergreifen, wenn er es kann und versteht. Er muss aber auch von Zeit zu Zeit einen gewissen Abstand zu unserer Geschichte bewahren oder schaffen. Jedes Werk setzt einen Inhalt an Wirklichkeit voraus und einen Schöpfer, der die Form gestaltet. So muss der Künstler, wenn er das Unglück seiner Zeit teilen soll, sich auch davon losreißen, um es zu betrachten und zu gestalten. Dieses ständige Hin und Her, diese Spannung, die in Tat und Wahrheit je länger, desto gefährlicher wird – darin besteht die Aufgabe des Künstlers von heute.

Albert Camus, Der Künstler und seine Zeit, in: Fragen der Zeit, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 1997, S.215-216

Orelie: Was kann ihm bei diesem Auftrag helfen?

Albert Camus: In diesem zermürbenden Abenteuer muss der Künstler unweigerlich bei den anderen Hilfe suchen, und wie die anderen wird er das Vergnügen, das Vergessen, aber auch die Freundschaft und die Bewunderung zu Hilfe ziehen. Und wie die anderen sucht er Zuflucht in der Hoffnung.

Albert Camus, Der Künstler und seine Zeit, S.216

Orelie: Welches Ziel sollte der Künstler hierbei verfolgen?

Albert Camus: Das Ziel der Kunst, das Ziel eines Lebens kann nur darin bestehen, die Summe von Freiheit und Verantwortung, die in jedem Menschen und in der Welt liegt, zu vergrößern. Es kann unter keinen Umständen darin bestehen, diese Freiheit selbst vorübergehend zu vermindern oder aufzuheben. Es gibt Werke, die den Menschen beugen und ihn zu irgendwelchen äußerlichen Richtlinien bekehren wollen. Andere wieder wollen ihn dem Schlimmsten in ihm, dem Terror und dem Hass, dienstbar machen. Für mich sind diese Werke wertlos.

Der Künstler und seine Zeit, S.218

Orelie: So messen Sie der Freiheit den höchsten Wert bei?

Albert Camus: Die Freiheit ist der Weg, der einzige Weg zur Vervollkommnung. Ich habe früher schon gesagt, dass keines der Übel, die der Totalitarismus zu beheben behauptet, schlimmer ist als der Totalitarismus selber. Ich habe meine Meinung nicht geändert. Die Freiheit erscheint mir schließlich für die Gesellschaft wie für das Individuum, für die Arbeit wie für die Kultur, als das höchste Gut, ohne das kein anderes bestehen kann.

Der Künstler und seine Zeit, S.223

Orelie: Können Sie dieses Engagement für die Freiheit genauer beschreiben?

Albert Camus: Welches auch unsere persönlichen Unzugänglichkeiten sein mögen, der Adel unseres Berufs wird stets in zwei schwer zu haltenden Verpflichtungen wurzeln: der Weigerung, wider besseres Wissen zu lügen, und dem Widerstand gegen die Unterdrückung.

Der Künstler und seine Zeit, S.226

Orelie: Was bedeuten diese Forderungen für die Kunst und den Menschen, der sie schafft?

Albert Camus: In gewissem Sinn ist die Kunst eine Auflehnung gegen das Flüchtige und Unvollendete der Welt: der Künstler will also nichts anderes, als der Wirklichkeit eine veränderte Gestalt geben, während er gleichzeitig gezwungen ist, diese Wirklichkeit beizubehalten, weil sie die Quelle seines Empfindens darstellt.

Der Künstler und seine Zeit, S.242-243

Orelie: Kommen wir nochmals auf die Freiheit zurück, die wie Sie geschrieben haben mit Risiko, Mühe, Widerstand verbunden ist. Was können die Künstler hierbei ernten?

Albert Camus: Es geht um das Wissen, dass wir ohne die Freiheit nichts zustande bringen und gleichzeitig die zukünftige Gerechtigkeit und die ehemalige Schönheit verlieren werden. Einzig die Freiheit erlöst die Menschen aus der Vereinzelung; die Knechtschaft dagegen herrscht über eine Unzahl von Einsamkeiten. Wie sollte man sich wundern, dass die Feiheit von allen Bedrückern als der erklärte Feind angesehen wird? Wie sollte man sich wundern, dass die Künstler und Geistesarbeiter die ersten Opfer der modernen Tyranneien geworden sind? Wie immer die Werke der Zukunft beschaffen sein mögen, sie werden alle das gleiche, aus Mut und Freiheit bestehende, von der Kühnheit Tausender von Künstlern aller Jahrhunderte und aller Völker genährte Geheimnis bergen. Gerade so wenig wie der freie Mensch ist der freie Künstler ein Mensch der Bequemlichkeit. Der freie Künstler ist der Mensch, der mühselig seine Ordnung selber schafft. Je wirrer das ist, was er ordnen muss, desto strenger wird seine Regel sein und desto nachdrücklicher die Bekräftigung seiner Freiheit.

Der Künstler und seine Zeit, S.247,248,246

Orelie: Am 10. Dezember 1957 erhielten Sie den Nobelpreis für Literatur und in Ihrer Dankesrede räumten Sie der Freiheit und der Wahrheit einen großen Platz ein. Möchten Sie etwas aus Ihrer in Stockholm gehaltenen Rede zitieren?

Albert Camus: Angesichts einer von Auflösung bedrohten Welt, in der unsere Großinquisitoren Gefahr laufen, auf immer das Reich des Todes aufzurichten, ist jede Generation sich bewusst, dass sie in einer Art gehetztem Wettlauf mit der Zeit einen nicht in Knechtschaft gründenden Frieden unter den Völkern wiederherstellen, Arbeit und Kultur wieder versöhnen und im Verein mit allen Menschen einen neuen Bund schaffen sollte. Es ist nicht sicher, ob sie diese gewaltige Aufgabe jemals wird erfüllen können; sicher ist jedoch, dass sie überall in der Welt bereits den zwiefachen Einsatz auf Wahrheit und Freiheit gewagt hat und gegebenenfalls ohne Hass dazu zu sterben weiß. Dieser Generation, wo immer sie sich befindet, und vor allem dort, wo sie sich zum Opfer bringt, gebührt Gruß und Zuspruch. Auf sie möchte ich jedenfalls, Ihres tiefinneren Einverständnisses gewiss, die Ehre übertragen, die Sie mir heute zuteil werden lassen.

Der Künstler und seine Zeit, S.227-228

Orelie: Herr Albert Camus, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.